bearbeitet: 10.01.2003     
ergänzt: 15.03.2012     

Die ss-Regel der Rechtschreibreform - ein logisches Dilemma

Sprachwissenschaftler waren ja ohnehin nicht in der Rechtschreibkommission, alle waren Didaktiker. Die anfangs wenigen Wissenschaftler, wie zum Beispiel Prof. Eisenberg aus Potsdam, haben die Kommission verlassen, nachdem man sich mit hirnrissigen Argumenten ihren Einwänden widersetzte. Nun, die verbliebenen Damen und Herren der Kommission liegen aber mit der Logik arg im Kriege, wie man eben mit der ss-Regel zeigen kann.

Die Regel für das Schreiben von ss anstelle ß ist in verschiedenen Reformerwerken ganz unterschiedlich formuliert, aber stets lautet der Kern der Regel:

"Nach kurzem Vokal wird ß zu ss."

Hier soll jetzt nicht von den häßlichen Schreibgebilden geredet werden, die dadurch entstehen. Das finden Sie in meinem Resümee. Aber es mag wohl von der Generation, die in der Schule noch richtiges Deutsch gelernt hat, verstanden werden, hingegen nicht mehr von einer folgenden Generation, weil sie ja nicht mehr wissen kann, wo früher nach kurzem Vokal einmal ein ß gestanden hat. So ist die Regel in sich selbst unbrauchbar.

Dann ist sie zu einem echten logischen Dilemma geworden: Es gibt eine Regel, die man nicht anwenden kann, weil unbekannt ist, ob da früher mal ein ß gestanden hat. Die Logik der Regel ist nicht mehr vorhanden und die Beispiele in der folgenden Tabellenspalte "Logisch nach der Regel" müssen gegebenenfalls als Ausnahmen gelernt werden, um sie nicht mit ss zu schreiben. Nun ist deren Anzahl aber so groß, daß sie die "Regel" mal schlichtweg außer Kraft setzen würde. Es gibt also keine Regel, mit der man ableiten könnte, wo nach kurzem Vokal ss geschrieben wird, und wo s. Nachfolgend habe ich nur eine kleine Auswahl aufgelistet.

Richtig deutschLogisch nach der Regel
der oder die Mast der oder die Masst
die Rast die Rasst
das Fest das Fesst
der Mist der Misst
die Last die Lasst
der Rest der Resst
der Bus der Buss
der Ballast der Ballasst
festziehen, -legen, -setzen u. a. fesstziehen, -legen, -setzen
die List oder listig die Lisst oder lisstig
der Kasten der Kassten
die Kiste die Kisste
das Raster das Rasster
der beste der besste
der Husten oder husten der Hussten oder hussten
fast fasst
die Lust oder lustig die Lusst oder lusstig
der Rost oder rostig der Rosst oder rosstig
die Hast oder hastig die Hasst oder hasstig
bis biss
was wass
das Aspik das Asspik

Übrigens: Warum schreiben wir den sächlichen Artikel das mit einem s? Steht da etwa kein kurzer Vokal? Dann gäbe es den Artikel dass und die Konjunktion dass. Wenn man sich also nach der Regel richten will, wird das ganze immer unbegreiflicher. Eine Verbesserung? Eine Vereinfachung? Wohl kaum. Außer Verwirrung und zusätzlichen Erschwernissen beim Erlernen ist nichts hervorgebracht worden.

Es ist also auch mit diesem Änderungsversuch der deutschen Orthographie keine Vereinfachung, sondern deutlich sichtbar eine Erschwernis erzeugt worden. Eine ganz einfache Regel (siehe Verweis unten) soll durch eine absurde Konstruktion ersetzt werden, die man nicht verwenden kann, weil sie schlicht unsinnig ist.

Wer sich soetwas ausdenkt, kann nicht erwarten, daß er ernstgenommen wird. Über 80% des Volkes haben das verstanden.

Und dann sind noch echte Ausnahmen eingebaut, für die es keine Begründung gibt, die völlig willkürlich und ohne jede Überlegung erfunden wurden: Warum soll es jetzt "das Ass" heißen? Hieß es etwa früher "das Aß"? Ohne Überlegung sage ich, weil ja für diesen Fall, wie an anderen Stellen auch, wieder eine Menge Dinge vergessen wurde. Denn nach dieser Logik müßte es zum Beispiel auch "der Buss" heißen und "das Glass" und "die Kirmess" oder auch "wass" und "biss" und anderes mehr. Also wieder einmal sieht man: Willkürliches und grundloses Herumstochern in historisch gewachsenen Schreibweisen, ohne Sinn, ohne Verstand.

Und was wird mit solchen Wörtern, wie "bespannen", "gesperrt", "Besteck" und vielen anderen? Alle mit kurzem Vokal und danach ein s - oder zwei?

Jetzt sagen Sie, ich brächte Sie völlig durcheinander? Oh, nein. Ich nicht. Die Reformbetreiber!

Vieles von dieser "Reform" bricht ja allmählich weg. Aber gerade das soll beibehalten werden? Igittigitt!

Falls Sie an diesem Thema weiterführendes Interesse haben, gebe ich noch eine Empfehlung mit. Herr Frank Müller und Frau Nele Winkler haben in ihrem Beitrag "Totenschein für das Eszett" in wunderbarer und einleuchtender Weise mit wissenschaftlich belegbaren Tatsachen die Verwendung des ß im Deutschen beschrieben. Auch Dinge aus der Reformpraxis zum Schmunzeln fehlen nicht. Der Beitragstitel ist Verweis auf diese Seite.

Und dann gibt es noch Zeitgenossen, wie zum Beispiel Herrn Helmut Kühnel, die das ß ganz abschaffen wollen, mit der außergewöhnlich schiefliegenden Begründung, es sei ein "uneuropäisches" Zeichen. Sie können hier einmal hineinsehen, um nachzuschauen, was Herr Kühnel da verzapft hat und was man bei normalem Verstand dazu sagen muß.

Wie frappierend einfach ist es doch im nichtreformierten Deutsch. Da gibt es für das Schreiben des ß nur eine Regel: ß wird dort geschrieben, wo man ss nicht trennen kann oder nicht trennen darf. Und das Schöne an dieser Regel ist: Zu ihr gibt es keine Ausnahmen.