bearbeitet: 03.01.2006
In der Deutschen Sprachwelt, Ausgabe 22, äußert Herr Helmut Kühnel, der sich als Gegner der
Rechtschreibreform artikuliert, eine recht unverständliche Auffassung über das ß in der deutschen
Schriftsprache.
Ich habe deshalb den Schriftleiter der Deutschen Sprachwelt, Herrn Thomas Paulwitz, um die Veröffentlichung
des nachfolgenden Beitrages gebeten.
Das ß als "uneuropäisches" Zeichen
In seinem Beitrag "ß ist überflüssig" (Deutsche Sprachwelt, Ausgabe 22, Winter 2005/06, Seite 2), spricht sich Herr Helmut
Kühnel dafür aus, auf das ß im Deutschen ganz zu verzichten, "...dieser Buchstabe ist zwar ein typisch deutscher,
doch der uneuropäischste, den man sich denken kann". Verwunderlich ist jedoch, daß dies ein Leser äußert, der
sich im gleichen Beitrag als Gegner der Rechtschreibreform offenbart: "Daß Sie nach wie vor erbitterten Widerstand
gegen die neue Orthographie leisten, erkenne ich an. Auch ich protestiere gegen ‚behände', ‚Tollpatsch', ‚belämmert'
und so weiter." Woher kommt dann der Fehlschluß beim ß?
Die Ursache für den Irrtum des Verfassers ist schnell herausgefunden: Es gibt keine "europäische"
Sprache, deshalb gibt es auch keine typisch europäischen Zeichen und keinen europäischen
"Zeichenstandard". Es gibt in Europa viele Sprachen, und jede hat ihre Geschichte und ihre
Tradition. Jede hat ihre Regeln, einen ganz eigenen grammatischen Aufbau, spezifische Schriftzeichen
und eine einzigartige Orthographie. Raum für Vereinheitlichung gibt es nicht. Vorhaben dieser Art
sind nicht möglich, nicht sinnvoll und von den Völkern auch nicht gewünscht.
Im Deutschen gibt es das ß, das es in anderen Sprachen nicht gibt. Müssen wir es ausmerzen, weil
es "uneuropäisch" ist? Im Deutschen gibt es die Umlaute ä, ö und ü, die es unter anderem
auch im Ungarischen, im Finnischen, im Türkischen gibt. Aber in den meisten Sprachen Europas gibt es sie nicht.
Sollen die Völker, die sie verwenden, sie beseitigen, weil sie uneuropäisch sind? Die Schweden schreiben
einen Ring über das A (Å), wenn der gesprochene Laut dunkler als das A, zum O tendierend, ist.
Muß das Zeichen weg, weil es nicht genügend europäisch ist? Im Spanischen gibt es die Tilde
über dem n (ñ), mit der ein gesprochener j-Anlaut vor dem nachfolgenden Vokal symbolisiert wird.
Sie gibt es nur im Spanischen. Sollen die Spanier sie abschaffen, weil sie uneuropäisch ist? Im
Polnischen gibt es das L mit dem Schrägstrich (Ł), mit dem ein Klangbild zwischen L und W
niedergeschrieben wird. Müssen die Polen das beseitigen, weil es uneuropäisch ist? Was verlangt
Herr Kühnel von den Franzosen hinsichtlich ihrer Akzentzeichen über Vokalen (accent grave, accent
aigue und accent circonflexe)? Weglassen? Kein Europastandard? Was sollen die Griechen tun?
Nach den Auffassungen Herrn Kühnels ist ihr ganzer Zeichensatz "uneuropäisch", weil in den meisten
europäischen Sprachen lateinische Buchstaben geschrieben werden. Und weiter: Sollen die Russen, die
Ukrainer, die Bulgaren und andere Völker die kyrillischen Zeichen ablegen, weil sie uneuropäisch
sind? Eine gräßliche Vorstellung. Ich will die Beispielaufzählung kurzhalten. Solche
Überlegungen hat Herr Kühnel offensichtlich nicht angestellt.
Hätte er, so wüßte er, daß das ß zur deutschen Schriftsprache gehört und
seine Abschaffung nicht zur Debatte stehen kann. Das ß gehört dorthin, wo es vor der Reform war,
nämlich an die Stellen, an denen man Doppel-s nicht trennen kann oder nicht trennen darf. Die Reformer
der deutschen Rechtschreibung wollen diese über Jahrhunderte bewährte, brillant einfache Regel
durch eine sehr viel kompliziertere ersetzten, die jedoch nichts taugt. Aber selbst wenn sie verwendbar wäre,
zeugte die Vorgehensweise noch immer vom Verlust jeder Achtung und allen Respekts vor der Geschichte und der
Tradition der deutschen Sprache. Es ist mit keiner Begründung hinnehmbar, daß sich eine kleine Gruppe
selbsternannter Sprachverbesserer anmaßt, das gesamte Regelwerk der deutschen Rechtschreibung
gegen den Willen der Mehrheit des Volkes umwerfen und den Deutschen eine andere als die historisch
gewachsene Rechtschreibung aufzwingen zu wollen. Unsere Sprache ist - wie alle anderen Sprachen
auch - kulturhistorisches Volksgut und kein Objekt, an dem man willkürlich herumbasteln kann.
Deshalb verurteile ich jede Art der gewaltsamen administrativen Veränderung einer Sprache. Das gilt auch
für Herrn Kühnels Wunschdenken. Der Rat für deutsche Rechtschreibung ist nicht autorisiert,
"Grundsätze" der deutschen Rechtschreibung zu "erlassen" und sie in doktrinärer Art und Weise
durchsetzen zu wollen. Er möge sich damit befassen, die sogenannte Reform schnellstmöglich aus der
Sprache zu entfernen, die einheitliche deutsche Rechtschreibung wiederherzustellen, zu wahren, zu pflegen und im
Einvernehmen mit der Volksmehrheit den modernen Gegebenheiten behutsam anzupassen. Sprachreformen
zum Wohle der Profitinteressen der Medienkonzerne braucht ein Volk nicht.