bearbeitet: 28.04.2000     

Prof. Dr. Harald H. Zimmermann, Saarbrücken
Memorandum zur Rechtschreibreform *)

Im Dialog betrachtet mit Bemerkungen von Dr. Manfred Pohl, Potsdam
Memorandum gegen die Rechtschreibreform *)

(Der Dialog ist in den Farben der beiden Titelzeilen ausgeführt: Der Text des Autors, Prof. Dr. Harald H. Zimmermann, ist schwarz, der Text der Dialogeinfügungen von Dr. Manfred Pohl ist rot dargestellt, die blauen Textstellen werden weiter unten erklärt, grüner Text ist nicht Bestandteil des Dialoges)

Die Reform der deutschen Rechtschreibung bewegt immer noch viele Menschen. Dies liegt u.a. an folgenden Problemen:

Die Reform wird als überflüssig angesehen, da die Änderungen kaum ins Gewicht fallen. Hier irrt der Autor zum ersten Male. Nachprüfbar in meinem Aufsatz im Internet unter
Deutsche Rechtschreibung und die sogenannte Reform
und anderen Beiträgen an diesem Internetplatz.

Viele sehen für sich persönlich keinen Anlass, "umzulernen", zumal dies mit einem gewissen Lernaufwand verbunden ist. Wenn es Sinn hätte, würde man es auch lernen, zu faul sind die Deutschen dazu wohl nicht, oder? Aber am Sinn scheitert es. Leider.

Die Medien informierten in der Vergangenheit häufiger unsachgemäß und stellten zudem die Kritik in den Vordergrund. Meinen Sie etwa auch, wenn kritisiert wird, ist es unsachgemäß. Ich will weiter unten noch zeigen, wie notwendig diese Kritik ist. Und es kritisieren noch viel zu wenige.

Die Folgekosten sind nicht klar abschätzbar. Hier irrt der Autor zum zweiten Mal. Die Kosten werden zur Zeit auf 50 Mrd. (50.000.000.000) DM geschätzt. Das ist gerade die Summe, die Finanzminister Eichel einsparen will, um den Staatsschuldenberg zu verringern. Aber die "Reform" scheint ja viel wichtiger zu sein. Und wenn man die zu bezahlen diskussionslos bereit ist, kann es mit den Sparzwängen so ernst nun auch wieder nicht sein.

1.     Zur "Dimension" (quantitativen Auswirkung) der Änderungen

Die Änderungen fallen quantitativ nicht sehr ins Gewicht. In Fließtexten änder sich etwa 3 % der laufenden Wörter (ohne Trennungen) gegenüber dem herkömmlichen Standard (wobei das Wörtchen "dass" alleine - absolut gesehen - etwa 0,8 % ausmacht). Bezogen auf die Veränderung von Zeichen sind es weniger als 1 %. Falsch. Zählt man die Veränderungen bei den (am Rand aktivierten) Trennstellen, liegt der Wert hierzu auch bei etwa 2 - 3 %, Falsch. soweit esum obligatorische Trennungen (st, ck) geht. Die Konsonantenverdopplung (genauer: der Wegfall der Konsonantenreduktion) betrifft etwa jede tausendste Trennstelle. Dann würde man es doch wohl noch lernen können. Nun, wie schon erwähnt, der Artikel von mir (s. o.) ergibt ein Bild. Am Ende ist auch eine Berechnung.

Wenn man alleine quantitativ argumentiert hätte, wären allerdings auch die Reform des Jahres 1901 (!) und erst recht alle später praktisch mit jeder DUDEN-Auflage eingeführten Änderungen überflüssig gewesen: Die Standardisierung von 1901 betraf Änderungen bzw. Vorschriften bei etwa so vielen Wörtern / Zeichen wie die jetzt beschlossene Regelung.

Die Quantität kann also kein ausschließliches Argument für oder gegen die neue Norm sein. Nein. Wohl aber die Quantität der unsinnigen und falschen Entscheidungen.

2.     Zentrales Ziel: Vereinfachung

Fast alle neu gefassten Regeln (die ja nur einen kleinen Teil des neuen Regelwerks ausmachen) dienen der Vereinfachung des bisherigen Standards und der sprachlogischen Nachvollziehbarkeit. Beim Wort logisch im Zusammenhang mit der Reform kräuseln sich mir die Rückenhaare. Man braucht nur die Tabelle der Getrennt- und Zusammenschreibung bei Stephanus Peil nachzulesen, um zu erkennen, daß die Logik in dieser Reform auf der Strecke geblieben ist. Gänzlich. Auch von einer "Regel" ist nichts zu erkennen. Dies gilt besonders für die Stammorientierung; wo zum größten Teil großer Humbug gemacht wurde, die gesamten Silbentrennregeln sind unter dem Aspekt der Vereinfachung zu sehen, nun haben wir genau das Gegenteil, aber auch die Regeln zur Großschreibung. Bei der die einzige Regel die Verwendung des puren Zufalls zu sein scheint. Etwas einzuschränken ist dies bei der Frage der Zusammen- oder Getrenntschreibung, aber auch hier werden entweder Plausibilitätsregeln mit eingebunden mir ist im Moment unklar, ob Sie unter "plausibel" dasselbe verstehen, wie ich oder eine entsprechende Flexibilität (durch vermehrte Zulassung von Alternativen) eingeführt. Eine Orthographie ist umso untauglicher, je mehr Zwei- und Mehrdeutigkeiten sie enthält. Nebenformen oder "Alternativen" sind keine Flexibilität. Wenn sie nun auch noch mit Gewalt herbeigeschafft werden, bedeuten sie eher ein Ruinieren der Schrift. Soll das etwa dem Ziel der Vereinfachung dienen? Eben dieses Ziel ist nicht erreicht worden.

Ich gebe nur einige Beispiele: Die wichtigste Regel (hier auch quantitativ gesehen) ist die Neuregelung der "ß"/"ss"-Schreibung. Das "ß" bleibt erhalten, doch wird der Gebrauch auf die Länge des vorangehenden Vokals bezogen. Womit nun dem Leser das Lesen so richtig schwer gemacht wird, z. B. Hassstürme oder Fassstellen oder Rosssattel oder Gebisssanierung oder Hunderte anderer. Die Unklarheiten wurden nicht beseitigt sondern lediglich verlagert und erweitert (eine weg, zwei neue hinzu). Zwar verbleibt eine Rest-Unsicherheit (wegen der Aussprache analog zum einfachen "s" im Auslaut), "Rest" ist irreführend, ich zeigte es eben. doch kann man über eine Beugungs-Probe (Wechsel stimmlos / stimmhaft: "Fuß" bleibt stimmlos: "Fußes" - "Gas" wird stimmhaft: "Gases" -) die meisten Fälle "absichern". Auch die Groß- oder Kleinschreibung von Wörtern wie "recht / Recht" lässt sich sehr einfach mit der Frage "wie" (Adverb = klein) bzw. "wen oder was" ("Substantiv = großer Anfangsbuchstabe) klären. Die Regel gab es schon. Sie ist kein Verdienst der Rechtschreibkommission. Die "Substantivierung" wird generell vereinfacht, wenn dies oft auch eher formale Prüfungen sind (Beispiel: "im Folgenden ist ..." / "im folgenden Falle ist ..."). Ja, eben deshalb muß es ja klein geschrieben werden, weil ein nachfolgendes Substantiv erspart wurde: es handelt sich um die grammatische Form der Ellipse. Davon wird doch das Adjektiv nicht zum Substantiv. Nun kann man gar nicht mehr sehen, wenn etwas fehlt.

Viele der Zweifelsfälle und Unsicherheiten (!), die die herkömmliche Norm aufwies, sind damit behoben. Nein, eben nicht. Behoben wurde gar nichts. Es wurden grobe Unklarheiten eingebaut.

3.     Flexibilisierung bei Grenzfällen

Ein Teil der heutigen Verunsicherung bzgl. der Neuregelung kommt interessanterweise dadurch zustande, dass die neue Norm flexibler ist, also mehr Alternativen zulässt. und damit deutlich schlechter geworden ist, siehe oben. Auch hier zur Veranschaulichung einige Beispiele: Nach der neuen Silbentrennregel kann man etwa (gleichwertig !) alternativ "etymologisch" oder "nach - einfacher - Aussprache" trennen (Beispiel: " Päd.-ago-ge" oder "Pä-da-go-ge"). Man sieht es richtig: Ein Hoch der totalen Regellosigkeit unter dem Deckmantel der "Alternative". Bei drei aufeinander folgenden Konsonanten ist die Trennung zwischen bestimmten Konsonanten "erlaubt", die herkömmliche Regel bleibt aber bestehen (Beispiel: "zen-tral" oder "zent-ral"). Noch eins drauf! Siehe 4 Zeilen höher. Zumindest in diesem Punkt kann man nicht von neuer Bevormundung sprechen. Es ist eine wahrhaft merkwürdige Selbstzufriedenstellung, in der Zulassung immer neuer Ungereimtheiten die Verminderung der Bevormundung erkennen zu wollen. Also doch eine Schreib-wie-du-willst-Orthographie.

Es gib ähnliche Beispiele für bestimmte alternative Neuschreibungen (bekannt ist etwa "Delfin" als neue Alternative neben "Delphin" als Vorzugsschreibweise), doch geht die Neuregelung hier nicht so weit, wie es manche Darstellungen in den Medien (s.u.) kolportiert haben: Es war nie ein Thema, die Schreibweise für Fremd- oder Lehnwörter (wie "Katastrophe" oder "Philosophie") generell neu zu regeln (etwa im Gegensatz zur Schreibung im Italienischen). Soll das eine Kritik sein? Die Italiener haben eine saubere und vor allem eindeutige Orthographie. Die Duden-Redaktion hat in dieser Sache durch ihr Verhalten die Autorität der einzig richtigen Arbeitsweise erlangt. Mit sprachlichem Feingefühl wurde z. B. der "Fotograf" eingeführt, noch ist das Wort "Photograph" erlaubt, wird aber heute kaum noch verwendet. Jetzt kann es aus den zulässigen Schreibweisen gestrichen werden. Aber weiter gilt "Oszillograph" – keine Änderung in Sicht. Dies sind Prozesse über Jahre und Jahrzehnte bei ständiger Beobachtung des Volkswillens. Solche Dinge lassen sich nicht in Monaten von einer Kommission in einem Kabinett vollziehen. Das ist Bevormundung, wenn der Begriff überhaupt passend ist. Niemand hat "Delfin" gewollt. Nur die Kommission. Aber Sprache ist nicht administrierbar. "Die Sprache gehört dem Volk" (Bundestag, 1992).

Nur bei einigen wenigen Wörtern wurde aus Analogie-Gründen die Schreibweise neu festgelegt ("Känguru" analog zu "Gnu") ja, hier sollen richtige Gewaltakte ausgeführt werden und das noch mit völlig aus der Luft gegriffenen "Analogie-Gründen". Dann also bitte jetzt auch "Ku", das ist auch ein Tier und fällt unter diese "Analogie". Vielleicht liegt die Analogie auch gar nicht darin, daß es ein Tier ist, und nun muß es auch "Schu" heißen oder "ro"? "Rau" sollen wir ja auch schreiben. oder wegen der Orientierung an der Stammschreibung vereinheitlicht (Überschwang -> überschwänglich, Hand -> behände ...). Vereinheitlicht wurde, wie man sieht, überhaupt nichts. Es wurde lediglich wahllos in der Orthographie herumgestochert.

4.     Zur Kostenfrage

Niemand kann heute genau abschätzen, was die Reform "kostet". Wohl nicht dagewesen, als die Summen veröffentlicht wurden? Dies ist auch eine Frage der Einführungsstrategie der am stärksten "betroffenen" Unternehmen, v.a. also der Verlage. Wofür stehen bei "betroffen" die Gänsefüße? Betroffen sind die meisten deutschsprechenden Menschen über die Reform. Die Verlage sind die Betreiber der Reform. Sie verdienen Unsummen damit. Betroffen ist der Steuerzahler, der die Reform am Ende bezahlen muß. Dafür haben alle eine Übergangszeit von 10 Jahren. Das sollte eigentlich reichen, um sich umzustellen. Wenn es denn einen Sinn hätte. Man sollte aber auch nicht die Augen schließen und so tun, als könnten beispielsweise die Presse oder der Rundfunk längerfristig noch der herkömmlichen Norm folgen Was wird denn jetzt versucht zu suggerieren? Sprachliche Gründe sind jedenfalls nicht zu erkennen. Ja, einen Grund sehe ich allerdings dafür: Es entfielen die Finanzspritzen der Betreiber der gesammelten Reformerwerke. (mag sich beispielsweise DER SPIEGEL auch heute noch anders äußern und die Presse formal auch nicht dazu verpflichtet sein). Eigentlich sollten die Presseorgane darüber nachdenken, dass sie in 5 - 10 Jahren eine junge Leserschaft haben werden, die nur noch die neue Schreibung und Trennung gewohnt ist und über die "alten" Schreibweisen vielleicht schon die Nase rümpfen wird ... Da haben wir es! Hierauf will man setzen. Die Kinder kriegen es heute befohlen. Sie werden nicht gefragt. Sie sind die Leidtragenden, denn sie müssen dann umlernen, wenn die Reform untergegangen ist. Und untergehen wird sie sicher. Sie zerfällt von innen heraus. Das ist für alle sichtbar, die mit offenen Augen durch die deutsche Schriftwelt gehen. Hier werden also von den Reformbefürwortern die Kinder als Geiseln verwendet, mit denen man das Volk zu erpressen versucht.

Wer fragt eigentlich heute noch nach den Kosten im Zusammenhang mit der Umstellung der Postleitzahlen? Diese war nur nötig, weil man ein W bzw. O vor der "alten" Postleitzahl (mit Recht) als diskriminierend empfand. Nun spannen Sie doch mal nicht einen Ochsen und ein Pferd vor den gleichen Karren. Was wir unseren Kindern und Enkelkindern aber bzgl. der zusätzlichen Lernaufwands mit der Beibehaltung der herkömmlichen Rechtschreibnorm antun würden, ist m.E. mindestens ebenso problematisch, will also heißen, die Kinder von heute sind alle viel dümmer als die heute Erwachsenen, die unsere Schrift beherrschen? Die können nicht mehr lernen, was Millionen vor ihnen gelernt haben? Problematisch ist, daß unsere Kinder heute diesen Reformerunsinn lernen müssen – gegen den Willen der übergroßen Mehrheit der Lehrer. auch wenn die Thematik selbst nicht zu vergleichen ist. Der Umstellungsaufwand wird bald ebenso vergessen sein. Und hier irrt der Autor wieder.

5.    Zum derzeitigen Entwicklungsstand

Heute kann man noch nicht mit umfangreichen Erfahrungen oder statistischen Ergebnissen aufwarten. Die Neuregelung ist ja offiziell noch nicht einmal in Kraft; nur in der Schulausbildung wird aufgrund entsprechender Verordnungen bereits danach verfahren. Mir fällt schon wieder auf, daß Ihnen an verschiedenen Stellen einfach die Informationen versagt blieben. Es gibt sehr wohl statistische Untersuchungsergebnisse, und die besagen alle einheitlich, daß die Zahl der Fehler derer, die das Zeug anwenden müssen, angestiegen ist. Da ich bereits seit einigen Monaten (als Vielschreiber und Software-Entwickler), s.u. Software-Entwickler ist hierbei wohl ohne Belang, die schreiben in Programmiersprachen, in denen ja nun völlig andere Regeln gelten die neue Norm anwende, denke ich, dass ich in der Lage bin, einen ersten Eindruck wiederzugeben. Da ich zudem in dieser Frage eher "konservativ" eingestellt bin (also dort, wo es erlaubt ist, "herkömmliche" Varianten bevorzuge hört, hört! ), ist vielleicht meine persönliche Erfahrung ein kleiner Hinweis für die mögliche Verfahrensweise für diejenigen, die heute eher zögerlich bzgl. der persönlichen Umstellung eingestellt sind:

  • Da ich bei der Trennung weitgehend die herkömmliche Form (Variante) verwende (also wo es geht, etymologisch trenne), "trifft" mich nur die " st."-Trennvorschrift und die "ck"-Trennung. Dies fällt mir gelegentlich "optisch" zwar noch auf, doch ist dies weniger störend. Fragen Sie mal die Nachrichtensprecher, die ihre Texte nicht immer vor dem öffentlichen Vortragen lesen können, die sagen etwas ganz anderes.
  • Die Möglichkeit der Abtrennung einzelner Vokale am Wortanfang (A-bend, Feiera-bend) nutze ich einfach nicht. Na fein. Ich finde diese Möglichkeit unästhetisch, aber auch bisher habe ich Wörter wie "Stiefel-tern" nicht so (wie angezeigt) getrennt, obwohl dies nach den herkömmlichen Regeln erlaubt war. Solche Dinge hätte die Kommission beseitigen müssen – das wäre ihre Aufgabe gewesen. Ja, warum führt man dann solche Regeln wie die Einzelvokaltrennung ein? Ein deutliches Zeichen, wie das Volk in der ganzen Reform ignoriert werden soll: Selbst Befürworter der Reform finden solche Regeln unästhetisch, und dennoch werden sie erlassen?
  • Bei (nach der neuen Norm erlaubten) Alternativen wie "Delphin" / "Delfin", "Spaghetti" / "Spagetti" hätte ich auch kein Problem (wenn sie im Text bei mir vorkämen), zumal die herkömmliche Schreibweise zugleich Vorzugsschreibweise ist.
  • Wirklich spürbar ist die "ß"/"ss"-Regelung, doch da habe ich mich schon so an die neue Form gewöhnt, dass ich gelegentlich schon beim Lesen der Tageszeitung über die "alte" Schreibweise stutze. Bitte geben Sie mir den Titel, ich werde sie bestellen!

Ich habe überhaupt nur bei einem einzigen Wörtchen Probleme, und dies aus systematischen Gründen: Es handelt sich um das Wort "numerisch", das wegen der Stammschreibung "nur" noch "nummerisch" geschrieben werden darf. Allerdings ist die Stammschreibung das lateinische "numerus" und nicht "die Nummer", wie einige Herren "Wissenschaftler" glauben machen wollen. Wir sprechen von numerischer Mathematik (mit der Betonung auf dem ersten e), und Sie selbst schreiben in Ihren Nachbemerkungen zur Person völlig korrekt von Ihrer Professur für nicht-numerische Datenverarbeitung. Ich denke, man hätte der Aussprache vor der Stamm-Schreibung Vorrang geben oder zumindest die herkömmliche Form als Alternative zulassen können. Es ist mir unangenehm, aber ich muß Sie hier belehren: Wenn Sie "nummerieren" auch so sprechen (mit kurzem u), sprechen Sie es falsch. Denn die Bedeutung des Wortes "numerieren" liegt eher im Durchzählen (lat.: numerus – die Zahl) als im Versehen oder Ausstatten mit Nummern. Nach wie vor, wie immer es geschrieben werden soll, heißt es "numerieren" (mit gedehntem u). Mit Einzelbeispielen kann und sollte man aber eine insgesamt sehr gelungene Reform nicht aus den Angeln heben. Nun, der Ausdruck "insgesamt sehr gelungen" ist äußerst unpassend.

6.     Was wäre, wenn ... ?

Die Kritik an der Reform entzündet sich gelegentlich auch an der Frage der Zuständigkeit der Entscheidungsinstanz und die Berücksichtigung der "Meinung der Mehrheit der Bevölkerung". Ich denke, dass wir eine Staatsform haben, die uns auch die Chance gibt, Dinge zu regeln, die vielleicht (vordergründig) nicht jeder Person gleich einleuchten. Diese Äußerung unterstützt die perfekte Absichtserklärung, das Volk zu überfahren, etwa so: Die sind alle blöd und werden sich mit der Zeit schon daran gewöhnen. Und 90% des Volkes kann man wohl kaum mit der Floskel "nicht jede Person" belegen. Und es steht auch außer Zweifel, dass die Länder (wie in diesem Falle ja auch in der Vergangenheit schon geschehen) die politische Entscheidungsinstanz (hier durch die KMK) darstellen. Wenn die Rechtschreibregelung eines Beschlusses der Parlamente bedürfte, dann müsste in Zukunft u.U. auch jedes Curriculum durch die Parlamente (oder durch Volksentscheid ?) abgesegnet werden, denn die Inhalte der Allgemeinen Schulbildung wiegen weitaus schwerer als die Normierungen der Schreibweise. Vergleiche hinken meist ein wenig, diesem hier fehlen aber die Beine gänzlich. Die deutsche Sprache betrifft alle deutsch sprechenden Menschen, für die sind die Parlamente da. Die Schule ist dagegen eine verschwindend kleine Institution.

Ein zentraler Punkt wurde in der Diskussion hier zudem viel zu wenig beachtet: Wenn eine Regelung nicht "verfassungsgemäß" ist (wer auch immer dafür verantwortlich sei), dann die bisherige: de facto hatte nämlich ein Privatunternehmen, das Bibliographische Institut in Mannheim (mit dem Produkt "DUDEN Rechtschreibung") von der KMK nach dem 2. Weltkrieg ein Monopol erhalten. Wir sprechen heute sehr gern von Deregulierung, aber bei der Neuregelung stand auch dieses Problem auf dem Prüfstein. Also, weg mit denen, die die notwendige Arbeit bisher zur vollen Zufriedenheit der Völker erledigt haben. Jetzt müssen endlich mal welche her, die uns zeigen, wie sowas gemacht wird! Verfassung – Paperlapap! Rechtschreibung wird zukünftig befohlen. Zack, Zack! Die Töne kannten wir doch schon mal.

Mit der Entscheidung, eine neutrale staatenübergreifende Kommission mit der Normbegleitung zu beauftragen (man könnte von einer Normungsstelle analog zu DIN sprechen) und in Deutschland einem nicht-kommerziellen, renommierten Institut die Federführung zu übertragen, das der (theoretischen wie empirischen) Erforschung der deutschen Sprache satzungsgemäß ausdrücklich gewidmet ist und von Bund und Ländern (Blaue Liste) finanziert wird (Institut für deutsche Sprache, IdS, in Mannheim), hat man ein wichtiges Problem der fachlichen Zuständigkeit sachgerecht gelöst. Was soll das heißen? War die Duden-Redaktion kein "nicht-kommerzielles, renommiertes Institut"? Wozu diese Änderung? Ich kann es Ihnen sagen: Die Duden-Redaktion war einigen "kommerziellen, nicht-renommierten Instituten" wie Bertelsmann und anderen ein Dorn im Auge. Sachgerecht gelöst? Nein. Profitgerecht gelöst.

Wenn man "zurück" will, muss man sich also auch fragen lassen: zu welchem Standard denn? Der "alte DUDEN" kann es nicht mehr sein, die meisten der dortigen Regelungen halten einer qualifizierten Normung zudem nicht mehr Stand. Sie tun immer so, als war die bisherige deutsche Rechtschreibung lange schon untauglich. Sie halten sich auch nicht im mindesten damit auf, das herauszuarbeiten und zu begründen. Es ist für Sie ein Axiom, das alle kritiklos zu glauben haben. Also müsste erneut eine "neue" Regelung versucht werden. Dies kann aber nach dem Stand der Dinge kaum anders aussehen als die jetzige Norm. Dem Stand welcher Dinge denn? Nein. Wir brauchen überhaupt keine "neue Norm". Die bisherige Rechtschreibung war ausgereift, und der Umgang mit ihr war wohldurchdacht und richtig. Sie ist historisch gewachsen, beinhaltet das Wissen und die sprachliche Praxis vieler Generationen und basiert auf sprachwissenschaftlich belegten Entwicklungen. Alles, was danach gemacht wurde, ist untauglich, wie es Hunderte Sprachwissenschaftler mit Tausenden Beispielen nachgewiesen haben. Fündig wird man allenfalls bei Regeln, die noch weiter gehen, etwa der Total-Abschaffung des "ß" (die Schweiz hat dies sowieso realisiert) oder der Einführung der Kleinschreibung bei Substantiven. Dies hatten einige Wissenschaftler wohl vorgeschlagen, aber dann wäre es aufgrund der (erwartbaren) Stimmung in der Bevölkerung sicherlich nicht einmal bis zu einer Regelung gekommen. Zu einer Regelung ist es auch bis jetzt noch nicht gekommen, oder soll die mit roher Gewalt durchgepeitsche Pleitenorthographie etwa die Regelung sein? Und noch etwas: Schieben Sie nicht die Bevölkerung vor, auf Grund deren Stimmung die Kleinschreibung der Substantive nicht zu machen wäre. Es hat sprachwissenschaftliche Gründe, es bei der Großschreibung zu belassen. Mit der Kleinschreibung der Substantive verlöre das Deutsche noch mehr von der Eindeutigkeit in der Schrift. Interpretieren Sie doch mal folgende Sätze unter Anwendung der Kleinschreibung: "Der gefangene floh." "Helft den armen vögeln!" "Ich habe in Moskau liebe genossen." "Der macht den durchbruch." Wollen Sie mehr? Man sieht also, die Kleinschreibung ist nicht ohne weitere Verluste einführbar. Führen Sie auch bitte nicht die vielzitierten Kontextargumente ins Feld, sie sind unpassend. Wir haben eine Eindeutigkeit, warum sollten wir sie also ohne jede Notwendigkeit beseitigen?

7.     Der "Denk"-Ansatz und seine Folgen

Soweit ich dies überblicke, war es die Aktivität einer Einzelperson, die auf der Buchmesse 1996 in einer spektakulären Aktion eine bereits in ruhigeren Gewässern geglaubte Regelung erneut in die Medien brachte. Welch ein Glück! Einer ist immer der erste, der etwas sagt. Was aber am Ende zählt, ist das Echo dieses einen, denn innerhalb kürzester Frist war es eine Massenbewegung von über 90% des Volkes. Ist das an Ihren Erkenntnissen vorbeigegangen? Nicht einzelne lehnen diese "Regelung" ab, sondern das Volk, und zwar in einer Geschlossenheit, die äußerst selten ist.

Natürlich unterstelle ich den Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern der Frankfurter Erklärung in keiner Weise, dass sie blauäugig in eine Falle getappt seien. Dazu sind sie als kompetente Literaten und um die Sprache ernsthaft besorgte Experten zu bedeutend. Und die anderen über 1000 Wissenschaftler, die die Werke der "Experten" niederschmetternd kritisieren, sind völlig unbedeutend?

Aber keiner der Unterzeichner schreibt wohl mehr (wie z.T. vor 1901) noch "giebt "oder "Brod", sondern nutzt wie selbstverständlich die Schreibweisen der (noch) geltenden Norm. Nun wäre die Welt sicherlich nicht untergegangen, wenn die Reform 1901 nicht geklappt hätte (das wäre 1914 / 18 und 1939 / 45 aus anderen Gründen eher wahrscheinlich gewesen, und derartige Gefahren sind bis heute nicht ganz gebannt. Ja, man sieht es deutlich.

Da die Norm den Privatbereich nicht betrifft, wird andererseits auch kein Autor gezwungen, nach der neuen Norm zu schreiben. Es geht mir einfach nicht in den Kopf, wie Sie daran interessiert sein können, eine einheitliche deutsche Schriftsprache abschaffen zu wollen. Es zählt doch wohl zu den sprachwissenschaftlichen Grundsätzen der ersten Reihe, daß man zur gegenseitigen Verständigung zwischen zwei Seiten auf beiden Seiten das gleiche Signalsystem verwenden muß, wenn die Verständigung funktionieren soll. Nun soll eine "Regelung" erlassen werden, die im Privatbereich nicht gilt und laut Reformkommission auch nicht für die Fachsprache. So wird die Zeit nicht mehr fern sein, in der die Deutschen permanent aneinander vorbeischreiben. Zudem wird (hoffentlich) niemand fragen, nach welcher Norm ein Roman geschrieben ist, sondern danach, welchen Gehalt er hat. Doch. Man fragt sich schon, ob man ihn überhaupt lesen kann, sonst nützt der beste Gehalt nichts. Mir gefällt auch nicht, daß von einer "Norm" gesprochen wird, wenn man die Schriftsprache meint. Sie ist nicht eine "Norm", sondern eine Grundsäule der deutschen Kultur.

8.    Die Rolle der Medien

Da das Wort hanebüchen "neu" wie "herkömmlich" gleich geschrieben wird (da nicht von "Hahn" abgeleitet), möchte ich es auf die Behandlung des Themas in den Medien anwenden (nicht pauschalierend, versteht sich). Hanebüchen war z.B. ein Beitrag im Morgenmagazin des ZDF, wo munter über die vorgeblichen Neuschreibungen "Katastrofe" und "Filosofie" (bis zum "Schäf"- für "Chef") räsoniert wurde - genau an jenem Tag, an dem die KMK einen Beschluss fassen sollte. Man entschuldigte sich später damit, man sei einer Falschmeldung einer Nachrichtenagentur aufgesessen (ich konnte dies allerdings nicht nachvollziehen). Zum endlichen Wachrütteln der Öffentlichkeit waren diese Beispiele aber gerade recht. Zwar waren sie nicht in die offiziellen Vorschläge der Rechtschreibkommission eingegangen, aber diese Vorschläge hat es tatsächlich gegeben. Hanebüchen.

Die Saarbrücker Zeitung brachte dankenswerterweise (in Fortsetzungsform) eine Übersicht zu den wichtigsten Regeln. Allerdings fiel schon der erste Beitrag dadurch auf, dass die Regeltexte selbst der herkömmlichen Schreibung folgten, Warum werfen Sie das vor? Heute ist es doch bei vielen Redaktionen Usus, Autorenbeiträge gegen deren Willen aus der Normalschrift in den Neuschrieb umzusetzen. ganz abgesehen davon, dass Neuschreibungen durch Tippfehler entstellt wurden ("Zierat" -> "Zierart" statt "Zierrat") Hierüber sollte man gelassen schweigen, niemand ist fehlerfrei. Ich kritisiere ja auch nicht die Stellen in Ihrem Text, die fehlerhaft sind und an denen die Regeln des Schriftsatzes verletzt werden (damit Sie nicht suchen müssen, habe ich sie blau gekennzeichnet). und Alternativen gelegentlich nicht angegeben wurden (beispielsweise wird der Eindruck erweckt, als würden Wörter wie "Spagetti" oder "Delfin" nur noch in dieser Schreibweise erlaubt (obgleich gerade "Delphin" und "Spaghetti" Vorzugsschreibungen bleiben), "Getto" war auch bisher schon neben "Ghetto" als Variante zugelassen usf. Dass dies alles eher zu Verwirrung beiträgt (ich kann nur aus meinen Erfahrungen zitieren), leuchtet wohl jedem ein. Schade. Aber ich darf doch sicher klarstellen, daß nicht die Medien und die Rechtschreibreformgegner die Verwirrung herbeigeführt haben, sondern die Rechtschreibkommission und ihre Arbeitsweisen.

Auch die - meist Denk-würdigen - Talkshows zu diesem Thema trugen (und tragen) eher zur Verwirrung denn zur Klärung bei. "Infotainment" ist durchaus wünschenswert, wenn es nicht zum "Desinfotainment" wird. Sagen Sie, müssen wir eigentlich so reden? Dieser Satz ist doch schon kein deutsch mehr.

9.     Zum Problem der neuen gedruckten Rechtschreib-Lexika

Ich beziehe mich hier (in knapper Form) auf die beiden "Bestseller" "Bertelsmann" und "DUDEN" Rechtschreibung.

Im "Bertelsmann" ist die Regelung ziemlich formal ausgelegt; allenfalls kann man - wohl wegen des "Zeitdrucks" einer möglichst raschen Markteinführung - bei einigen Stichwörtern kleinere Fehler nachweisen (was natürlich auch nicht ganz unproblematisch ist, wenn es um ein so sensibles Thema geht). Hier wird ganz einfach etwas heruntergespielt, denn es handelt sich nicht um "kleinere Fehler", sondern um riesige Fehlentscheidungen in großen Massen. Dafür nach einer Entschuldigung zu suchen, ist so unnütz wie die ganze Reform.

Der "DUDEN" dagegen (nach wie vor - trotz des Verlustes des werbewirksamen Zusatzes "Maßgebend in allen Zweifelsfällen" - vom Image in der Bevölkerung her führend) Für mich wie auch für die meisten Deutschen noch immer maßgebend in allen Zweifelsfällen, aber die Ausgaben bis 1990, die neuen nicht. brachte durch die Präsentation der Einträge im Lexikonteil v.a. bei der Silbentrennung eine eigenständige, vom Regelwerk nicht vorgegebene Priorität ein. So wird bei der Trennung den neuen Trennstellen im Text Vorrang einräumt (also "zent-ral", "Pä-da-go-ge"); Varianten (hier "zen-tral", "Päd.-ago-ge" d.h. die herkömmliche, nach wie vor gleichwertige Trennung) können nur über einen Verweis auf die DUDEN-spezifischen Regeln im Vorspann des Wörterbuchs erschlossen werden. Dies kann m.E. beim Nutzer - fälschlicherweise - den Eindruck erwecken, als sei die im Lexikonartikel angezeigte Trennung zu bevorzugen, ganz abgesehen davon, dass man nur mühsam von den DUDEN-eigenen Regel-Paragraphen zum "offizellen" Normtext gelangt, der zudem in kleinerer Schrift im Anhang abgedruckt ist.

Ich erwähne dies hier so ausführlich, weil ich denke, dass v.a. die Umsetzung des Regelinventars durch den "DUDEN" und die Schwachstellen der Erstauflage des "Bertelsmann" mit zur derzeitigen Verwirrung beigetragen haben. Es gab vielleicht beim "DUDEN" gute Gründe für die Darstellungsform; man kann v.a. die Kompetenz der DUDEN-Redaktion nicht im Geringsten in Zweifel ziehen, aber eine gewisse Irritation ist beim "Normal"-Leser m.E. dadurch nicht auszuschließen.

10.   Wer trägt die Verantwortung, wer wurde gefragt?

Ein von den Reformkritikern gerne gebrauchter Vorwurf ist die vorgebliche mangelnde Beteiligung der gesellschaftlich relevanten Gruppen; hinzu kommen Zweifel an der Zuständigkeit der Entscheidungsinstanz (der Konferenz der Kultusminister der Länder, KMK).

Dass die Absicht, eine Reform anzugehen, nicht frühzeitig den gesellschaftlichen Gruppen bekannt gemacht worden sei, ist absolut falsch. Manchem wird es allerdings so gegangen sein wie mir: Nach den Fehlschlägen der Reformbemühungen in den 60-er Jahren (als man den Rechtschreib-Standard sehr weitgehend reformieren wollte) hatte ich mir - wohl wie viele - von den neuerlichen Bemühungen keinen Erfolg versprochen und - nahm von den Hearings keine Notiz. Im Verlag G. Narr war lange vor der Ausfertigung der endgültigen Regelung ein Entwurf erschienen, der zumindest in wesentlichen Zügen die Strategie der Reformkommission deutlich machte. Mit einer Strategie kann niemand etwas anfangen. Die Regelungen waren in einer internationalen Kommission (Länder mit deutscher Sprache oder deutschsprachigen Bevölkerungsanteilen) über lange Zeit hinter verschlossenen Türen erarbeitet worden. In dieser Kommission waren (bzgl. der deutschen Anteils) Vertreter vom Bund und den Ländern wie auch Fachleute. Lange vor der Verabschiedung des Regelwerks gab es Presseerklärungen (etwa des IdS) - mit entsprechender Resonanz auch in den lokalen Zeitungen - mit Hinweisen zu den beabsichtigten Regeln - ... man musste eigentlich nur hineinschauen. Das ist eine höchst dürftige Informationspolitik. In einer solchen grundsätzlichen Angelegenheit, die alle Menschen angeht, die mit der deutschen Sprache Umgang haben, kann man nicht daran hängenbleiben, daß die Völker sich die spärlichen Informationen eigenständig herausfischen. Hierhin gehört ein Aufruf an alle, sich zu entscheiden. Das muß am Ende mit einer Volksbefragung sanktioniert werden. Jede andere Verfahrensweise ist indiskutabel. In der Praxis wurden aber Volksbefragungen unterdrückt. Das Ergebnis haben wir nun. Die Betreiber versuchen mit einer Vielzahl unlauterer Tricks im Profitinteresse die Reform durchzusetzen. Gegen den Willen der Mehrheit der Völker.

Die Konferenz der Kultusminister der Länder (KMK) war und ist zuständig für derartige Regelungen. Niemand hatte dies jahrzehntelang bestritten (das Quasi-Monopol des "DUDEN" beruht - wie erwähnt - auf einem Entschluss dieses Gremiums zu Anfang der 50-er Jahre). Die KMK und die Ministerpräsidenten haben noch auf einige Detail-Entscheidungen eingewirkt (etwa bezüglich der Dauer der Übergangszeit), ehe dann letztendlich der Beschluss zustande kam. Die KMK kann nicht zuständig sein, wenn es um grundsätzliche Veränderungen der deutschen Sprache geht, wenn grammatische Säulen umgestoßen werden sollen, wenn in großem Umfang Wortbestand gestrichen werden soll, wenn Morphologie und Syntax geändert werden sollen, wenn Ausdrucksformen annulliert werden sollen. Es existiert überhaupt keine Behörde, kein Amt, kein Gremium, welchem das Recht zugesprochen werden kann, so etwas zu tun. Die Sprache entwickelt sich im Volk. Und nur dort.

Eine Mitsprachemöglichkeit war also durchaus gegeben. Sie wurde vielleicht von einigen Gruppierungen nicht ausreichend genutzt, Dem muß ich energisch widersprechen. Mitsprache des Volkes wird nicht über Beiträge von Einzelpersonen oder Gruppen realisiert. Mitsprache des Volkes kann nur über organisierte Befragungen mit Wahlcharakter und zentraler Auszählung erfolgen. Andere Formen haben kein politisches Gewicht. Wie mit den Beiträgen von Gruppen umgegangen wird, sehen wir ja ständig. Sie werden als Blabla unter den Tisch geschoben, und die Betreiber setzen ihr Tun fort. und man sollte für die zukünftige Zusammensetzung der (ja ständigen, die weiteren Entwicklungen begleitenden) Kommission auch ernsthaft überlegen, die "Vielfalt" an Kompetenz durch entsprechende Repräsentanten noch etwas besser einzubringen. Man kann der Kommission jedoch auf keinen Fall unterstellen, sie wäre zu wenig praxisnah gewesen und hätte das Regelwerk ohne Rückkopplung mit der Bevölkerung auf den Weg gebracht, ganz im Gegenteil. Dies ist des Autors erheblichster Irrtum.

Fazit

Ich denke, dass die meisten der "Sorgen" absolut unbegründet sind, dass die Reform ein gutes Stück Vereinfachung bzgl. der Schreibung, Silbentrennung und Zeichensetzung bringt. In der Übergangszeit lassen sich sicherlich Kinderkrankheiten (wie zwischenzeitlich schon geschehen) noch leicht ausgeräumen. Nur über die praktische Anwendung lassen sich diese aber ermitteln, und ich mache jedem Mut, die Neuregelungen "auszuprobieren".

Dieses Fazit muß ich nun gar nicht mehr kommentieren. Aus allem bisher gesagten geht eindeutig hervor, daß die ganze Reform auf den Scheiterhaufen der Sprachgeschichte gehört. Sie bringt weder eine Vereinfachung, noch eine Verbesserung des Regelwerkes, noch irgendeinen anderen Vorteil. Im Gegenteil, sie beschädigt die deutsche Schriftsprache in völlig unzulässiger Weise, sie vernichtet vorhandene Ausdrucksmöglichkeiten, erhöht die Fehlerquoten in allen Schichten, die den Neuschrieb zu verwenden suchen. Und sie praktiziert Gewalt am Volk und spaltet das Volk.

Ich wage dabei die Prognose, dass in wenigen Jahren bereits niemand mehr über dieses Thema diskutieren wird; allenfalls wird die Enkelin vielleicht dem Großvater, der gerade einen Brief (am Computer) schreibt, über die Schulter sehen und ausrufen: "O wie habt ihr damals so komisch geschrieben!" Es kann jetzt gelacht werden.

Nachbemerkung zur Person

* 1941; wiss. Ausbildung: 1. Staatsexamen in Germanistik und Geschichte, Promotion in Sprachwissenschaft und Informatik. Professur für nichtnumerische Datenverarbeitung / Informationslinguistik in Regensburg, Professur für Informationswissenschaft in Saarbrücken (bis heute); Forschungen und Entwicklungen (mit Veröffentlichungen) zur maschinellen Sprachanalyse / Übersetzung, zur automatisierten Bürokommunikation, zu neuen Informationstechnologien (Internet); Begründer der SOFTEX GmbH, Saarbrücken; u.a. - seit 1980 - Produkte zur automatischen Rechtschreibkontrolle, zur automatischen Silbentrennung ("PRIMUS") zur maschinellen Indexierung ("IDX"), zu mehrsprachigen Lexika. Neueste (im vorliegenden Zusammenhang besonders relevante) Lösung ist die PC-Software "deutsch KORREKT" mit der Möglichkeit, einen Word-Text sowohl nach der herkömmlichen Norm als auch nach Varianten der neuen Norm rechtschreiblich zu prüfen wie vorzutrennen (ggf. auch "herkömmlich" nach "neu" und umgekehrt umzusetzen).

Seit mehreren Monaten wende ich die Neuregelung - unterstützt durch die o.a. Prüfsoftware - beim Schreiben konsequent an (bei Gutachten, Schriftverkehr...). Das habe ich auch einige Wochen lang getan. Auf Befehl meines Kultusministers. Jedoch nur dienstlich. Dabei habe ich mehrfach festgestellt, daß ich Gedanken nicht mehr wie bisher formulieren kann. Ich mußte Verrenkungen anstellen, um meine mündliche Ausdrucksweise zu Papier zu bringen. Manches mußte ich anders formulieren, um es im Neudeutschen korrekt niederzuschreiben. Das habe ich gar bald wieder aufgegeben. In der gesicherten Erkenntnis, daß mich niemand zur Anwendung dieser "Regeln" zwingen kann, schreibe ich seit langem wieder richtig deutsch. Auch dienstlich. Zudem bin ich fachlich entsprechend vorgebildet: schon meine wiss. Staatsarbeit 1967 ging über die Leistungen der deutschen Zeichensetzung (veröffentlicht als DUDEN-Beitragsheft), meine Dissertation 1972 handelte von elektronischer Lexikografie, in einem frühen Beitrag zu den möglichen Auswirkungen der Einführung der gemäßigten Kleinschreibung habe ich zusammen mit einem Kollegen statistische Untersuchungen zu den dadurch entstehenden neuen syntaktischen Homographien durchgeführt. Umfassende Erfahrungen habe ich mit der Realisierung der Rechtschreibkontrollverfahren PRIMUS (seit 1980) und "deutsch KORREKT" gewonnen. Sie sind nicht der einzige mit fachlicher Vorbildung. Viele sind es. Und viele lehnen sich gegen das Werk auf.

Um Missverständnissen vorzubeugen, sei erwähnt, dass ich nicht Mitglied der Reformkommission war und bin.

*) Adressaten: Fraktionen des Deutschen Bundestages
*) Adressaten: Prof. Dr. Zimmermann und alle, die es zu lesen wünschen.

Hier noch einige gewichtige Nachbemerkungen:

Als ich diesen Dialog ins Internet eingestellt hatte (April 2000), hatte ich ihn gleichzeitig Prof. Zimmermann zur Kenntnisnahme übersandt. Er hatte mir auch geantwortet, daß er zu diesem Zeitpunkt sehr beschäftigt gewesen sei und sich deshalb später genauer damit auseinandersetzen wolle. Seitdem warte ich. Bis heute (Juli 2004) habe ich nichts mehr davon gehört.

Im September 2004 fand ich unter http://www.sprache.org/bvr/index.htm (das ist eine Seite des Züricher "bundes für vereinfachte rechtschreibung", der unter anderem für die Kleinschreibung der Substantive eintritt) unter "wer ist wer: personen" den folgenden Eintrag:

Zimmermann, Harald H

Zimmermann

* 1941. Prof. für informationswissenschaft an der universität des Saarlandes. Gründer: SOFTEX GmbH, Saarbrücken (u. a. produkte zur automatischen rechtschreibkontrolle, zur automatischen silbentrennung, zur maschinellen indexierung, zu mehrsprachigen lexika.)
h.zimmermann@is.uni-sb.de

Und hier haben wir des Rätsels Lösung, warum Prof. Zimmermann ein Befürworter der Rechtschreibreform sein muß: Er hat kommerzielle Interessen an Ihrer Durchsetzung. Und bei dieser Interessenlage spielt es offenkundig keine Rolle mehr, welche Qualitätsmerkmale die Reform aufweist. Man engagiert sich eben - von Berufs wegen.