bearbeitet: 12.03.2009
ergänzt: 20.09.2009
erneut ergänzt: 17.12.2012
Die Gesellschaft und die Amokläufe
Nun haben wir nach dem Erfurter Gutenberg-Gymnasium erneut ein entsetzliches Amoklauf-Blutbad, diesmal
an der Albertville-Realschule in Winnenden, Baden-Württemberg. Grausam, unfaßbar, unbeschreiblich.
Furchtbares Leid für zahllose Familien, schmerzliche, unwiederbringliche Verluste wertvollen Menschenlebens.
Trauer im ganzen Land. Bereitschaft zu Solidarität und unmittelbarer Hilfe für die Hinterbliebenen überall.
Und auch erste Schlußfolgerungen aus der Tat und deren Ablauf.
Hier aber beginnt eine weitere Tragödie. Die Forderungen nach erhöhter Sicherheit für unsere Kinder treiben
so skurrile Blüten wie zum Beispiel Eingangkontrollen an den Schulen, Kameraüberwachungen,
erhöhte Polizeipräsenz und ähnliche völlig realitätsfremde Regulierungsversuche,
die wirklichen Ursachen aber bleiben unausgesprochen.
Ein komplettes gesellschaftliches System versinkt in Unfähigkeit und Ignoranz, wenn es um die grundsätzlichen
Wirkungsmechanismen für die Entstehung solcher Katastrophen geht. Die am 11. März in Winnenden praktisch
ausgeübte Gewalt eines 17jährigen ist kein Vorgang, der längeres Unverständnis nach sich ziehen
könnte. Solche Gewalt ist in den Medien keine seltene oder vereinzelte Kategorie, sondern permanente, ja
tägliche, oft stündliche Gewohnheitspraxis. Was ist ein Menschenleben auf den deutschen Fernsehkanälen
wert? Mord und Totschlag aus niederen Motiven ist der tägliche Normalablauf der deutschen Fernseh"kultur".
Hinzu kommen massenweise Videospiele und Computerprogramme, mit denen unsere junge Generation
das emotionslose Töten von Menschen üben und trainieren kann. Geht all das nun noch einher mit
Vernachlässigungen im Elternhaus, werden die Kinder unkontrolliert diesen Einflüssen überlassen,
fehlt Liebe und Zuwendung, so ist es den Heranwachsenden gar nicht möglich, Achtung vor dem
Leben und der Gesundheit der Menschen an ihrer Seite zu entwickeln. Vielmehr entsteht ungezügeltes
Streben nach persönlicher Vorherrschaft, nach Macht über Leben und Tod; jeder will der Größte sein, mit
welchen Taten auch immer. Die Zunahme der Gewaltkriminalität unter Jugendlichen ist keine
zufällige Tendenz. Sie ist nicht auf den Rechtsextremismus begrenzt und steht in engem
Zusammenhang mit diesen medialen Einflüssen. Die Ausführungen zu diesem Teil des Problems in
einer 15minütigen Spezialsendung der ARD am 11. März um 20:15 Uhr waren gerade einmal 8 Sekunden
lang. Hier liegen die Prioritäten des notwendigen Handelns in unserer Gesellschaft.
Es gibt nur eine tragende Schlußfolgerung mit Langzeitwirkung: Weg mit der permanenten Gewaltdarstellung
in unseren Medien! Staatliches Verbot der massenweise existierenden Computerprogramme der Gewalt- und
Kriegsverherrlichung! Klar und deutlich: All das sind Dinge, die niemand braucht. Erst danach können andere
Präventivmaßnahmen, wie Gespräche mit den Jugendlichen, Beobachtung von Auffälligkeiten und rechtzeitige
Reaktionen, stärkere Zusammenarbeit zwischen Elternhaus und Schule überhaupt eine Chance auf Erfolg
bekommen. Aber genau an dieser Grundforderung und ihrer Durchsetzung offenbaren sich schier
unlösbare Probleme, denn hier ginge es vielen ans Geld. Fernsehen wird hierzulande nur des Geldes wegen
gemacht - Einschaltquoten zählen, sonst nichts - und die IT-Branche holt Unsummen mit den genannten
Spielprogrammen aus dem Volk. Diese Geldflüsse lassen sich freilich nicht mit freiheitlich-demokratischem
Gesäusel oder pseudo-rechtlichem Grundsatzgehabe stoppen, hier müssen andere staatliche
Wirkmechanismen geschaffen werden. Aber dort, wo der Staat gebraucht würde, fehlt er gänzlich.
Es führt zu keinen Ergebnissen, den Täter zu verdammen, ohne primär eine Lösung dieser Probleme
in Angriff zu nehmen. Wird hier nicht eingegriffen, werden wir früher oder später erneut vor
Exzessen dieser Art stehen und verstört nach den Ursachen suchen. Das ist der eigentliche Teufelskreis
der heutigen Gesellschaft: Öffentliche Fassungslosigkeit, wo Handeln gefordert ist.
Nicht alles in unserem System ist schlecht, es muß nur verallgemeinert werden: Im Kampf gegen die
Kinderpornographie sind wir bereits einen Schritt weiter.
Nachtrag vom 20.09.2009:
Wie oben erwähnt, war es zu erwarten. 17.09.2009: Der Abiturient Georg R. verletzt
bei einem Anschlag am humanistischen Gymnasium Carolinum in Ansbach acht Mitschüler und einen Lehrer. Die Tat
wurde offenbar lange im voraus geplant. Und auch diesmal sehen wir uns fassungslos. Jedenfalls hat in Ansbach die
Polizei richtig reagiert. Bleibt nur zu hoffen, daß dies nicht zu Disiplinarverfahren führt.
Nachtrag vom 17.12.2012:
Wie ich oben schon sagte, es war vorauszusehen: Wieder gibt es eine Katastrophe durch einen Amoklauf.
Diesmal einer, der alles bisherige übertrifft. 20 tote Kinder im Alter von 5 bis 9 Jahren und 7 erschossene
Erwachsene. Diesmal nicht in Deutschland, sondern in Newtown, Connecticut, USA. Aber auch in den USA kein
Einzelfall. Und wieder ist eine ganze Nation und darüber hinaus die ganze Welt geschockt. Und wieder werden
drakonische Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit debattiert. Endlich will man in den Vereinigten
Staaten der Waffenlobby entgegentreten. Zitat aus der Rhein-Zeitung vom 17.12.2012:
"Bislang hat es die Administration tunlichst vermieden, sich mit der National Rifle Association
(NRA), der mächtigen Waffenlobby, anzulegen. Auch manche Obama-Wähler sind dort organisiert, und
besonders in ländlichen Gebieten plagt demokratische Abgeordnete die Angst vor einer Niederlage beim
nächsten Votum, falls sie den Zorn der NRA auf sich ziehen. Doch mit den furchtbaren Bildern aus Newtown
könnte die Stimmung kippen: Präsidentensprecher Jay Carney hat es bereits am Freitag ansatzweise zu
spüren bekommen. Allzu gebetsmühlenartig schmetterte er die bohrenden Fragen von Reportern mit dem
Hinweis ab, dass dies nicht die Stunde sei, um über schärfere Waffenkontrollen zu diskutieren. Es ist so
etwas wie die Standardformel nach solchen Tragödien. "Wann sonst?", entgegnen die Kritiker, denen allmählich
der Geduldsfaden reißt."
Ist das aber wirklich alles, was es dazu zu sagen gibt? Wenn sich jemand beim Einschlagen eines Nagels mit
dem Hammer den Daumen zerschlägt, muß man dann in aller erster Linie nach schärferen Konstruktionsvorschriften
für Hämmer suchen oder wäre es auch vordergründig wichtig, die Benutzer des Hammers zum sorgsamen Umgang
mit dem Werkzeug zu befähigen? Ein unpassender Vergleich? Hier ein statistischer Wert, der erklärt, was gemeint
ist: Ein Kind mit normal üblichem Fernsehkonsum hat in der heutigen Zeit bis zum Ablauf seines 12. Lebensjahres
rund 3000 Morde gesehen. Wie kann ein Kind, das kommentarlos diesen Einflüssen ausgesetzt ist, erkennen, daß
dies nicht der normale Lebensablauf ist? Wie kann ein solches Kind die Achtung vor dem Leben erwerben? Wie
kann es erkennen, daß man mit einer Waffe auf einen Menschen nicht einmal zielt, geschweige denn abdrückt?
Darüber aber spricht im Zusammenhang mit Amokläufen niemand. Auch in der hitzigsten Debatte nicht. Nun kann
man mir freilich entgegenhalten, daß Amokläufer in aller Regel Einzeltäter sind. Das ist insofern richtig, als die Masse
der jungen Menschen ein normales Verhalten hat. Hier aber geht es um einen statistischen Trend. Als ich ein Kind
war, gab es Amokläufe gar nicht. Da gab es auch noch kein Fernsehen. In meinem Erwachsenenalter waren es
extrem seltene Vorfälle. Da hat es im Fernsehen noch eine Art gesellschaftlicher Verantwortung gegeben. Heute,
da ich ein Mensch im gereiften Alter bin, gibt es mehrere Amokläufe pro Jahr. Zufall? Kaum. Das Fernsehen ist zur
Unmoral verkommen, Gewalt, Mord und Totschlag sind zur Normalität geworden, und dieses Fernsehen steht
jedem, auch den Jüngsten, unbegrenzt zu Verfügung. Und ergänzt wird es durch IT-Technik und Internet, in
denen es ebenfalls keine Begrenzungen gibt. Es erhärtet sich die Erkenntnis, zu der ich oben bereits gekommen
war: Ein komplettes gesellschaftliches System versinkt in Unfähigkeit und Ignoranz, wenn es um die grundsätzlichen
Wirkungsmechanismen für die Entstehung solcher Katastrophen geht. Deshalb ist unabwendbar, das obige zu
wiederholen:
Es gibt nur eine tragende Schlußfolgerung mit Langzeitwirkung: Weg mit der permanenten Gewaltdarstellung
in unseren Medien! Staatliches Verbot der massenweise existierenden Computerprogramme der Gewalt- und
Kriegsverherrlichung! Klar und deutlich: All das sind Dinge, die niemand braucht.
Wieviele Amokläufe dieser Art braucht die Menschheit noch, ehe die Mächtigen der Politik das begriffen
haben?