bearbeitet: 20.07.2010
Nachtrag vom 12.07.2018
Sprachverfall? Der erhobene Zeigefinger der Kulturpessimisten
In reichlich arroganter Manier engagiert sich ein Internetportal mit dem schwächlichen Namen "Orthogravieh" gegen alle, die die deutsche Sprache pflegen, erhalten und sinnvoll entwickeln wollen. Ich habe einen der "Grundsatzbeiträge" des Portals mit rot eingefärbter Schrift kommentiert, in der Absicht zu zeigen, wie schlimm die Irrtümer sind, die sich unter den Betreffenden festgesetzt haben. Man kann solche Sprachrevoluzzer in ihrer Ignoranz nur bedauern, aber man muß auch widersprechen.
14. Juli, 2010 von Orthogravieh (Originaltext des Beitrages in schwarzer Schrift)
20. Juli 2010, Einfügungen von Pohl (meine Kommentare in roter Schrift)
„Orthogravieh“ ist sicher ein recht witziges Pseudonym, dahinter erwartet man Satire,
aber plötzlich will es ernst genommen werden, das Orthogravieh. Das paßt nicht recht zusammen.
So werde ich also das Orthogravieh angemessen ernstnehmen, wo mir dies möglich erscheint. Menschen
aber, die sich um die Pflege der deutschen Sprache kümmern, Kulturpessimisten zu nennen, offenbart schon
im Titel des Beitrages den Kulturverlust des ganzen Unternehmens.
„Unsere Sprache ist im Begriff, wie ein krankes Tier zu verenden.“ Diesen Satz sagte Edda Moser in einem
Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung im Jahre 2006, und er wird heute noch gern zitiert.
Sie sagt aber auch. „Sprache darf sich aber nicht in die falsche Richtung entwickeln“.
Das Orthogravieh sucht sich also nur die Sätze heraus, die es für seinen populistischen Beitrag als passend
ansieht.
Vor allem von jenen, die sich dem Bewahren der deutschen Sprache verschrieben haben.
Hier disqualifiziert sich das Orthogravieh gleich zu Beginn selbst. Will es etwa die Sprache
nicht bewahren? Will es etwa Oettinger rechtgeben, der überzeugt ist, daß „Deutsch wohl als Familien- und
Freizeitsprache erhalten bliebe, im Arbeitsprozeß aber zukünftig englisch gesprochen werde“? Bewahren ist
schließlich nicht die Fixierung einer Momentaufnahme, sondern der sinnvolle Umgang mit notwendigen und im
Sprachgebrauch wachsenden Änderungen. Bewahren heißt Schutz vor Auswüchsen, nicht Schutz vor notwendigen
Veränderungen. Mit Verlaub: Die Rechschreibreform ist keine notwendige Veränderung. Eine von den
deutschsprechenden Völkern nicht legitimierte Gruppe von „Sprachverbesserern“ hat willkürliche und unsinnige
Änderungen herbeigeführt – zum Wohle des Profits einiger Medienkonzerne. Von „Verfall“ ist da die Rede
und von einem „dahinsiechenden, dem Tode geweihten Patienten Deutsch“. Hier wirft das
Orthogravieh ganz augenfällig Sprachbewahrer und militante Schreihälse in einen Topf. Fremd- und Lehnwörter
zum Beispiel sind schon immer aufgekommen. Sie zerstören die Sprache nicht. Aber ein Maß ist vonnöten.
Zur Zeit scheint das Maß überschritten, wenn all und jedes, das neu gemacht wird, nicht mehr deutsch, sondern
englisch benannt wird, wenn massenweise deutsche Wörter durch englische ersetzt werden, und wenn mit den
englischen Wörtern gleich auch die englische Grammatik mit eingeführt wird. Sieht es das Orthogravieh etwa als
normal an, ein Handelszentrum mitten in Berlin „Eastgate“ zu nennen? Oder einen Tischler in Potsdam, der sich
„Woodmaster“ nennt, obwohl es so ein Wort im Englischen gar nicht gibt? Oder wenn die Absicht verkündet wird,
das Zentralstadion in Leipzig in „Red Bull Arena“ umzubenennen? Da nörgeln sie also an der angeblich
verfallenden deutschen Sprache herum, die „alten Männer“ mit erhobenem Zeigefinger.
So erzeugt man künstlich ein Generationenproblem, wenn man die „alten Männer“ der „dynamisch-spritzigen
jungen Generation“ feindselig gegenüberstellt. Und vergessen dabei, dass es sich bei Sprache um
etwas höchst Vitales handelt. Lebende Sprachen, also solche, die von Sprachgemeinschaften (aktuell) verwendet
werden, verändern sich, und zwar ständig. Hört sich so an, als würden ältere Menschen,
die unsere Sprache bewahren möchten, das leugnen. Aber mit unsachlichen Diffamierungen läßt sich wohl kaum
das unbekümmerte Zusehen bei den vorzufindenden Maßlosigkeiten in der Sprach“entwicklung“
rechtfertigen.
Besonders wird gejammert über die Invasion der Fremdwörter, der anderssprachigen Entlehnungen. Frech ist
das doch, einfach „Spam“ zu sagen, mokieren sich die Weisen der „Aktion lebendiges Deutsch“
(http://www.aktionlebendigesdeutsch.de/)
und schlagen stattdessen die Wörter „E-Müll“ oder „Digimist“ vor. Weiß das Orthogravieh
eingentlich, das „Spam“ ursprünglich „das Frühstücksfleisch“ heißt? Gut oder schlecht ist hier nicht die Frage, aber
Deutsch ist eine der wenigen Sprachen, die allzugroße Mengen fremdsprachiger Begriffe, insbesondere
anglo-amerikanischer, unkontrolliert aufnimmt, ohne nach deutschen Bezeichnungen zu suchen. Dabei entsteht
auch kurioses: „Bodybags“ kann man kaufen, Rucksäcke sind gemeint, „body bags“ sind im Englischen aber
Leichensäcke. Und wie heißt Rucksack im Englischen? Kaum zu glauben: rucksack. Wörter mit
Migrationshintergrund (also Wörter mit Wanderhintergrund? Fremdwörter sind für
manch einen eben Glücksache) haben es also nicht leicht in einer angeblich sprachbewahrenden Umgebung.
Und das ist gut so. Schleichen sie sich etwa schmarotzend in unsere heile deutsche
Sprachwelt ein? Saugen sie sich parasitär fest an einem immer schwächer werdenden deutschen Wirt, wie man es
ihnen vorwirft? Vielleicht schauen wir uns einfach mal an, seit wann sich diese Wörtchen uns eigentlich nähern und
wie geschickt sie sich hineinschmuggeln ins Deutsche: Englische Lehnwörter importieren wir noch
gar nicht so lange: Erst seit dem 19. Jahrhundert hat ihr Einfluss zugenommen. Griechische und lateinische Lehnwörter
beispielsweise fühlen sich schon länger heimisch bei uns. Oftmals sind diese Wörtchen schon so weit eingedeutscht,
dass wir sie gar nicht mehr als besagte Migranten erkennen. Das ist etwa bei „Schal“ der Fall. Oder hätten Sie
gewusst, dass es auf das englische „shawl“ zurückgeht (und darüber hinaus auch noch persische Wurzeln hat)?
Kein nörgelnder alter Mann käme heute mehr auf die Idee, sich über die Verwendung des Wortes „Schal“ aufzuregen.
Kein „nörgelnder alter Mann“ würde Fremdwörter bemängeln, wenn es nicht schon zur Manie
geworden wäre, in großen Mengen deutsche Vokabeln durch englische zu ersetzen, heißt, die deutschen aus
unserer Sprache zu verbannen. Event statt Ereignis, Location statt Ort, public viewing statt Gemeinschaftsfernsehen
und täglich Hunderte neuer Einfälle. Übrigens: Public viewing bezeichnet im Englischen die öffentliche Aufbahrung
eines Verstorbenen. Das wußten die sicher nicht, die es fürs Fernsehen etablierten. Fragen Sie mal eine jüngere
Verkäuferin in der Kaufhalle, wo die Pampelmusen
liegen. Sie wird sie verständnislos ansehen. Grapefruit heißt das, die Pampelmuse ist gestorben. Oder fragen Sie nach
Moosbeerensaft. Gibt es nicht. "Cranberry juice" heißt das. Den veralteten Quatsch brauchen wir nicht mehr.
Leider begegnet man zur Zeit auf Schritt und tritt diesem ausufernden Englischwahn, der im wesentlichen nichts
als Angeberei ist. Denn versucht man mit Leuten, die einem so krampfhaften Englischzwang unterliegen, englisch
zu sprechen, ist sehr schnell der Dampf raus. Wer Englisch kann, pflegt seine Muttersprache.
In seinem populärwissenschaftlichen Artikel
„Ist die
deutsche Sprache vom Verfall bedroht?“
versucht sich der Linguistik-Professor Rudi Keller an einer wunderbaren (und auch wunderbar
verständlichen) Antwort auf diese Frage, die viele umtreibt. So schreibt er dort: „Wir beobachten die Sprache
punktuell durch ein schmales Zeitfenster und erkennen in diesem begrenzten Ausschnitt notwendigerweise
jede Menge Fehler und Barbarismen. Die systematischen Fehler von heute sind jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit
die neuen Regeln von morgen.“ Dadurch, dass wir den Wandel hautnah miterleben, müssen wir ihn natürlich auch
zwingend als fehlerhaft wahrnehmen (aber nicht zwingend als bedrohlich für unsere Sprache). Und fehlerhaft ist
er auch, solange die aktuelle Regelhaftigkeit noch ist, wie sie ist. Letztlich entscheidet tatsächlich der Gebrauch
über viele Jahre hinweg (wie am Beispiel „Schal“ gezeigt), das macht das Lebendige aus.
Damit hat Rudi Keller aber sicher nicht gemeint, daß man in regelmäßigen Abständen Rechtschreibreformen machen
muß, mit denen das Regelwerk komplett abgeschafft und durch ein anderes ersetzt wird. Es kann auch sicher eine
Entwicklung nicht als normal angesehen werden, in der ein erheblicher Teil des Volkes ohne spezielle
"Neudeutsch"-Lehrgänge seine Muttersprache nicht mehr verstehen kann.
Ein kleines Problem ergibt sich für uns trotz allem, und zwar ein „moralisches“: Wie können wir guten Gewissens
einerseits eine Lanze brechen für Migrantenwörter (Wandererwörter? Welch treffsichere
Ausdrucksweise!) und für einen unaufgeregten Umgang mit dem Sprachwandel,
andererseits aber besserwisserisch und gleichsam lustvoll immer wieder den Orthogravieh’schen Rotstift ansetzen
und uns den augenrollenden Zorn unserer geschurigelten Kollegen zuziehen? Die Antwort darauf ist bestechend
einleuchtend: Wir sehen einen deutlichen Unterschied zwischen unreflektiertem Um-sich-Schlagen bei jeglicher
sprachlicher Veränderung, die im Grunde etwas völlig Normales ist, und einem wachen, aufmerksamen Umgang
mit Sprache und ihrer aktuellen (!) Regelhaftigkeit. (Wie wunderbar, dieser
Erkenntniswandel! Weiter oben spricht doch das Orthogravieh noch ganz anders). Sprache funktioniert
nach bestimmten Prinzipien, die zu einer bestimmten Zeit gelten und nachvollzogen werden können. Das war
früher so, und das ist heute so – und das Heute erleben die geplagten von uns Korrigierten am eigenen Leib
(besonders der Kollege, der folgenden absolut legendären Satz produziert hat: „Von dem Spieler seine
Geschwindigkeit wird gemessen.“). Legendär? Was versteht denn das Orthogravieh
darunter? Ich erkenne darin einen Sprachscherz wie etwa Bastian Sicks „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“.
Nun doch Satire? Natürlich sprechen wir mitunter solche Späße wie „noch und nöcher“ oder „nichts destoweniger
trotz“ oder "du bist am dransten", aber welcher normale Deutsch-Muttersprachler erwartet wohl, daß dies die
zukünftigen Regeln werden?! Immerhin sind solche Dinge nicht ganz aus der Luft gegriffen, so daß
wohl doch ein Bedarf besteht, daraufhinzuweisen. Denken wir nur an den SMS, den Short
Message Service, also den Kurzmitteilungsdienst. Viele hinterfragen gar nicht mehr, was sie
reden und schreiben, und so entsteht großer Unfug: Sie schicken sich nun gegenseitig SMS zu,
ohne zu erkennen, daß das gar nicht geht. Den Dienst kann man nicht verschicken, sondern nur
die damit erzeugten Kurzmitteilungen. Und die sprachlich völlig aus dem Takt Geratenen fangen neuerdings
sogar an "zu simsen". Sind das etwa erstrebenswerte Veränderungen? "Völlig normale" Entwicklungen?
Alles verändert sich. Sprache verändert sich. Und wir plädieren für sprachliche Unaufgeregtheit. Ach was, wir
plädieren für Unaufgeregtheit allgemein. Was ist „Unaufgeregtheit“? Ist es das
teilnahmslose Zusehen beim Zerstören unserer Sprache durch einige sich fortschrittlich nennende
dynamisch-spritzige Zeitgenossen? Ist es die Ablehnung des spracherzieherischen Wirkens der Lehrerschaft
an den Schulen? Ist es die Haltung, das Volk werde es schon richten, niemand dürfe sich da einmischen?
Brauchen wir keinen Stolz mehr auf unsere Sprache? Soll es richtig sein, daß schon die nächste Generation die
heute geschriebenen Texte nicht mehr lesen kann? Wenn es das ist, verdient „Unaufgeregtheit“ den Titel
„Das Unwort der Neuzeit“.
Tags: Oder vielleicht Verweise?
Deutsch,
Lehnwörter,
Sprache,
Sprachverfall,
Sprachwandel
Alle Artikel in „Orthogravieh” ansehen.
Nachtrag vom 12.07.2018
Geraume Zeit nicht kontrolliert. Inzwischen gibt es diese Verweise alle nicht mehr. Ist das Orthogravieh gestorben?
Hat man es geschlachtet? Es war wohl doch allzu schulmeisterlich aufgeblasen, wie man sich gegen die "alten
Männer mit dem erhobenen Zeigefinger" aufgeführt hat. Ich lasse den Beitrag aber trotzdem stehen. Denn
ähnlich arrogante Beiträge zu den Auffassungen derer, die unser Kulturgut Sprache mit Sorgfalt behandeln
wollen, gibt es auch heute noch.