bearbeitet: 28.06.2017    
1. Ergänzung: 15.07.2018    
2. Ergänzung: 30.03.2021    

Ein mathematischer Scherz
oder
wenn die Mathematik mit der Realität im Krieg ist

In der Zeitschrift Freundin findet man unter der Adresse www.freundin.de/lifestyle-wasser-formel für die Berechnung des täglichen Flüssigkeitsbedarfs eines Menschen eine recht eigentümliche Formel. Da heißt es:

2 Liter Wasser?
Mit dieser Formel können Sie Ihren wirklichen Bedarf berechnen.

Endlich wissen wir, wie viel Wasser wir wirklich am Tag trinken sollten.
Diese Formel berechnet, wie viel Wasser Sie täglich trinken sollten.
Zwei Liter, drei Liter oder sogar vier Liter? Die meisten von uns trinken einfach nach Gefühl. Aber wie viel Wasser sollten wir nun eigentlich trinken, um unseren Tagesbedarf zu decken? Mediziner der "Mayo Clinic" in den USA haben darauf eine ganz einfache Antwort entwickelt. Nämlich eine Formel, die, genau auf die Person abgestimmt, berechnen soll, wie viel Liter Wasser man über den Tag verteilt zu sich nehmen sollte. Doch Achtung, diese sollte man mit Vorsicht genießen.

Gewicht und Alter spielen eine Rolle.
Wenn Sie Ihre Daten in diese Formel einsetzen, können Sie berechnen, wie viel Liter Wasser Sie am Tag trinken sollten:

Soviel zur Erklärung der Zeitschrift Freundin.
Nun habe ich die Veröffentlichung einer Analyse unterzogen. Bei dieser genaueren Betrachtung kommt man nicht daran vorbei, die Formel unter mathematischem Ulk einzuordnen.

Ohne einer Erklärung ausweichen zu wollen, vermute ich, daß hierin mit Gewicht die Körpermasse in kg gemeint ist und mit Alter das Lebensalter in Jahren. Die Flüssigkeitsmenge W soll dabei offenbar in Litern (l) entstehen. Das alles kann man aber nur vermuten, da es nirgends erklärt ist. Für eine mathematische Auslassung sind das aber unerläßliche Definitionen. Ich nehme einmal an, es sei so, wie ich vermute.

Nun müßte der Autor dieser mathematischen Perle nur noch die Herkunft der beiden Faktoren 1/28,3 und 0,03 erklären, dann könnte man praktische Berechnungen zweckmäßig begründen. Aber auch ohne die Herkunft der vermutlich stramm über den Daumen gepeilten Zahlenwerte zu kennen, kann man eine ganz praktische Überlegung anstellen: Man kann sie ohne Zweifel miteinander multiplizieren, das ändert am Inhalt der Formel nichts. Dabei sieht man, daß 0,03/28,3 = 0,00106 ist, also rund ein Tausendstel. Damit wird die Formel zunächst einmal sehr viel einfacher, nämlich

So kann man nun ohne umständliche Rechnerei im Produkt Gewicht · Alter ganz einfach das Komma um drei Stellen nach links verschieben, um auf die Flüssigkeitsmenge W in l zu kommen. Es ist auch möglich, den Faktor gleich 1 zu setzen, dann ergibt das Produkt aus Körpemasse und Alter den Flüssigkeitsbedarf in ml. Man darf nur nicht übersehen, daß der Faktor 0,001 oder 1 nicht dimensionslos ist, denn Gewicht · Alter hat die Maßeinheit kg·Jahr, W aber soll die Maßeinheit l (Liter) oder ml (Milliliter) haben. Der Faktor muß also die Maßeinheit l/kg·Jahr oder ml/kg·Jahr haben, damit W die richtige Maßeinheit l (Liter) oder ml (Milliliter) erhält. Er ist somit ein Proportionalitätsfaktor, der aus der Vermutung, der benötigte Wasserbedarf eines Menschen sei dem Produkt aus Körpermasse und Alter proportional, eine Gleichung erzeugt, mit der dieser Bedarf berechnet werden könne. Die Theorie wäre damit also recht elegant geklärt.

Nun aber komme ich zur Praxis. Dabei zeigt sich, daß die Vermutung für diese Proportionalität völlig falsch ist und zu bizarren Resultaten führt, die den Tatsachen signifikant widersprechen. Zwei Beispiele:

Beispiel 1
Für einen Menschen der Körperhöhe 1,80 m mit 90 kg Körpermasse, der 80 Jahre alt ist, erhält man

Wie nun? 7,2 Liter pro Tag? Das ist immerhin ein kleiner Eimer. Pro Woche wäre möglicherweise schon eher angemessen. In Bier wären das nämlich fast 15 Flaschen (Standardflaschen zu ½ l). Wenn man sich täglich 2 Flaschen Bier genehmigt, müßte man nach dieser Rechnung dann immer noch 6,2 l Wasser nachgießen. Für einen Elefanten möglicherweise akzeptabel, aber für mich, der ich gerade 80 geworden bin? Das wäre mit Verlaub eine Ganztagsaufgabe, sofern man es überhaupt durchstehen könnte.

Beispiel 2
Für einen 7jährigen Jungen mit einer Körperhöhe 1,50 m und einer Körpermasse von 36 kg ergäbe sich eine tägliche Wassermenge von

Das entspricht etwa dem Inhalt einer Kaffeetasse. Ich bin sicher, so ein Junge trinkt da schon mehr, wenn er nach dem Toben vom Spielplatz heimkommt. Und danach kriegt er dann den ganzen Tag nichts mehr? Das werden seine Eltern ganz gewiß nicht zulassen.

Die Formel ist also, wie man leicht sehen kann, völlig unbrauchbar. Sie scheint ohne ein wissenschaftlich tragfähiges Fundament spekulativ zurechtgezimmert worden zu sein, ohne hernach eine angemessene Überprüfung an der Praxis vorzunehmen. So kommen Ergebnisse zustande, die sowohl logisch als auch medizinisch völlig danebengehen. Die Ursache dafür ist elementar: Die Proportionalität des täglichen Flüssigkeitsbedarfs eines Menschen zum Produkt aus Körpermasse und Alter besteht nicht. Offensichtlich ist diese Vermutung von den Autoren völlig aus der Luft gegriffen worden. Begründbar ist allenfalls eine Proportionalität zur Körpermasse: Je größer die Körpermasse, desto größer ist auch die enthaltene Flüssigkeitsmenge, deshalb auch der größere Flüssigkeitsumsatz. Die Proportionalität zum Alter hingegen ist sowohl logisch als auch medizinisch nicht erklärbar. Und mit einer plausiblen Begründung dafür haben sich die Autoren denn auch nicht aufgehalten. Aber die bloße Behauptung ist allein aus mathematischer Sicht nicht ausreichend.

Mathematik ist eben doch eine Wissenschaft, mit der man sich zunächst einmal etwas intensiver beschäftigen muß, bevor man sich anschickt, solch eine "Formel" zu veröffentlichen. Dabei weise ich der Redaktion der Zeitschrift Freundin nicht die ganze Schuld zu, denn der Unfug wurde ja von der Mayo Clinic in Minnesota verzapft (siehe unten angefügten E-Mail-Verkehr). Aber man hätte es kritischer prüfen müssen, weniger in gutgläubiger Ehrfurcht vor einer amerikanischen Einrichtung verharren dürfen.

Mit dieser Analyse hatte ich am 26.06.2017 die Redaktion der Zeitschrift Freundin angeschrieben, nachdem ich im Netz die Geschäftsführerin, Frau Kampp-Wirtz, ausfindigmachen konnte:

Von: Dr. Manfred Pohl (unipohl@aol.com)
An: freundin@burda.de
Datum: 26.06.2017 - 18:33 Uhr
Betreff: Ein mathematischer Scherz

Sehr geehrte Frau Kampp-Wirtz,

in den Anhang habe ich eine kleine Datei gelegt, mit der ich auf ein Problem mit einer Veröffentlichung auf Ihrem Internetportal hinweisen möchte.

Es wäre gut, wenn Sie die genannte Veröffentlichung noch einmal überprüfen würden.

Mit freundlichen Grüßen
Dr. Manfred Pohl

Ich habe auch eine einsichtsvolle und vielversprechende Antwort von der stellvertretenden Chefradakteurin, Frau Christiane Hähnel erhalten:

Von: Christiane Hähnel
An: Dr. Manfred Pohl
Datum: 27.06.2017 - 11:11 Uhr
Betreff: AW: Ein mathematischer Scherz?


Darin erfahre ich neben einem Dank für mein Feedback, daß man sich an einer Studie der Mayo Clinic in Minnesota orientiert hat und im Kollegenkreis Testberechungen angestellt habe, die plausibel erschienen, deshalb habe man den Artikel veröffentlicht. Erst nach meiner Analyse sei klar geworden, daß die Berechnungen nicht aufgehen und dies auch gar nicht können. Letztendlich sagte man mir zu, den Artikel zu überarbeiten.

Ergänzung am 15.07.2018:

Nun ist seitdem immerhin etwas mehr als ein Jahr vergangen. Aber eine Änderung der Veröffentlichung habe ich nicht feststellen können. Die unbrauchbare Gleichung ist noch immer auf dem Internetplatz der Zeitschrift nachzulesen. Offenbar hat man nichts Brauchbares gefunden. Wenn das so ist, sollte man doch lieber die Veröffentlichung ersatzlos entfernen. Es ist immer noch besser, nichts zu sagen, als seine Leser mit einer völligen Fehlleistung zu verwirren.

Wie aber ist es denn nun richtig? Kann man überhaupt den Menschen so weit mathematisieren, daß man den Flüssigkeitsbedarf mit einer allgemeingültigen Formel für alle berechnen kann? Man kann nicht. Der Flüssigkeitsbedarf ist von sehr vielen Faktoren abhängig, die allesamt individuell verschieden sind. Häufig vorgefundene Normierungen sprechen von 30 bis 40 ml pro kg Körpermasse. Aber auch ein solcher Richtwert ist kaum zu verallgemeinern, schon gar nicht zu verabsolutieren. Einziges objektives Kriterium ist der Flüssigkeitsverlust des Körpers durch Ausscheidung und durch Abgabe über die Haut, z. B. Verdunstung und Schweißabsonderung, denn das ergibt die tatsächliche Flüssigkeitsmenge, die ersetzt werden muß. Dabei ist aber nur die Ausscheidung problemlos meßbar, die Abgabe über die Haut nicht ohne weiteres. Dies erforderte einen erheblichen technischen Aufwand und sehr viel Zeit. Am sichersten bleibt für die Ermittlung des Flüssigkeitsbedarfs am Ende doch nur die Beobachtung der Anzeichen des Körpers, die Flüssigkeitsmangel oder -überschuß signalisieren, und das Bestreben, nach ihnen zu handeln. Diese Anzeichen sind in der Fachliteratur in vielfältiger Weise ausführlich beschrieben, auch seriöse Internetportale geben zielgerichtete Hinweise.

Ergänzung am 30.03.2021:

Nun habe ich nach knapp 4 Jahren noch einmal nachgesehen, was aus der Veröffentlichung, die ich im Juni 2017 gefunden hatte, am Ende geworden ist. Dabei konnte ich feststellen, daß die Seite einige Schönheitsoperationen erfahren hat. Der Inhalt ist aber kaum verändert worden. Die unbrauchbare Gleichung ist immer noch da, sogar mit noch größerer Schrift als damals. Meine Zusendung vom 26.06.2017 und die durchaus positive Reaktion der Redaktion in der Person Frau Hähnels vom 27.06.2017 sind ohne Auswirkungen geblieben. Offenbar ist die Redaktion der Zeitschrift gegen Vorschläge aus ihrer Leserschaft unüberwindbar beratungsresistent. Ich will es nur noch einmal gesagt haben: Mittlerweile bin ich 83 Jahre alt und müßte nach Ansicht der Zeitschrift bei meiner Körpermasse von 79 kg täglich rund sechs und einen halben Liter Wasser trinken. Das schaffe ich selbst an den heißesten Sommertagen nicht. Die Menge würde vermutlich auch bei den gesündesten Menschen nicht ohne Überlastung der Nieren umzusetzen sein.

So bin ich mit mir noch nicht ganz im Reinen, ob ich noch einen Versuch unternehmen sollte, einen Hinweis zu versenden. Möglicherweise ringe ich mich dazu durch, allein schon aus Interesse an einer Antwort und deren Inhalt.