bearbeitet: 28.03.2012
Einige Gedanken zu einem Beitrag von Julia Emmrich
In roter Schrift eingefügte Kommentare von Dr. Manfred Pohl
"Hassu Kiezdeutsch, hassu Ärger". Viele finden den Halbstarken-Slang aggressiv, prollig und peinlich. Sprachforscherin
Heike Wiese findet ihn kreativ. "Kiezdeutsch", sagt die Professorin, "sei kein falsches Deutsch, sondern ein neuer
Dialekt".
Professorin Heike Wiese
"Kietzdeutsch" ist kein Deutsch und auch kein Dialekt. Kiezdeutsch ist Mangel an Bildung, den
es durch Lernen und Ausbildung zu überwinden gilt. Kiezdeutsch ist das Verwenden der deutschen Sprache durch
Menschen, die sie nicht oder noch nicht beherrschen. Wenn einer sagen will "ich hau dir eine runter" und sagt "ich du
bum", dann ist es neben der Sache, so etwas einen Dialektausdruck zu nennen.
Sprachhüter beschimpfen sie, Rechtsradikale bombadieren sie mit E-Mails, es gibt Drohungen gegen ihre Kinder - und
alles nur, weil Heike Wiese einen neuen Dialekt entdeckt hat. "Kiezdeutsch", sagt die Potsdamer Sprachforscherin,
und meint die Jugendsprache in den Einwandervierteln, "Kiezdeutsch ist nicht falsches Deutsch, sondern ein neuer
Dialekt. Mit festen Regeln und eigener Grammatik - wie das Bayrische oder Hessische".
Der Vergleich mit dem Bayerischen oder dem Hessischen zeigt, das Frau Professor Wiese nicht
weiß, was ein Dialekt ist. Ich empfehle ihr deshalb, sich Gedanken zu machen, um eine Definition für einen Dialekt zu
formulieren. Möglicherweise kommt sie im Prozeß des Nachdenkens darüber von selbst zu der Erkenntnis, daß diese
Behauptung abseits der Realität liegt. Die Reduktion der Grammatik auf Primitivregeln kann nicht "neuer Dialekt" genannt
werden, es handelt sich schlicht und einfach um die Zurückentwicklung oder Unterentwicklung der Sprache.
Jedoch ist es wenig hilfreich, die Verwender des "Kiezdeutsch" genannten Behelfsverständigungsmittels sowie auch
ihre Verteidiger zu beschimpfen oder zu bedrohen. Das schürt konträre Haltungen und trägt nichts zum Willen der
Betroffenen bei, die deutsche Sprache zielstrebig zu erlernen. Eher führt es zu ihrer dauerhaften Ausgrenzung aus
der Gesellschaft, in die sie schließlich integriert werden müssen, um im Lande bestehen zu können. Ich würde nicht
so weit gehen wollen, Frau Professor Wiese als die Urheberin der Anfeindungen gegenüber den Betroffenen anzusehen,
aber ihr theoretischer, sprachwissenschaftlicher Fehlbeitrag zur Sprachdiskussion trägt wesentlich dazu bei.
Ein neuer Dialekt? Am Ende sogar ein schöpferischer Akt? "Papperlapapp!", meinen besorgte Sprachschützer. Für sie
steht fest: Wer statt "Morgen gehe ich ins Kino" zu seinen Freunden "Morgen isch gehe Kino" sagt, kann einfach kein
Deutsch. Schwundstufe! Sprachverfall! Dass auch ein Hessischer Pendler ankündigt: "Isch schteische Frankfort um",
stört dagegen niemanden. Heike Wiese kennt diese Reflexe. Man könnte sagen: "Isch schwöre, Alta: Hassu Kiezdeutsch,
hassu Ärger." Keine fehlerhafte "Kanak Sprak", sondern eine Variante des Deutschen. Wohl eher
eine Variante des Abbaus der deutschen Sprache.
Die Professorin der Uni Potsdam hat Jahre lang die Sprache der Jugendlichen in Einwanderervierteln untersucht. Und
dabei eine Entdeckung gemacht, die vielen nicht passt: "Kiezdeutsch" ist grammatisch gesehen keine Mischung aus
Deutsch, Türkisch und Arabisch, keine fehlerhafte "Kanak Sprak", sondern eine regelhafte Variante des Deutschen - allerdings
mit vielen Vereinfachungen und Wort-Importen aus den Einwanderersprachen. Das ist keine Entdeckung,
sondern grober wissenschaftlicher Unfug, offenkundig der Hauptirrtum Professor Wieses.
Diese Auffassung ist zum Integrationsprozeß kontraproduktiv. Durch die Haltung, dies sei eine Sprache, sanktioniert
man ihren Bestand. Die Chancen solcher Gruppenmitglieder zum Beispiel auf dem deutschen Arbeitsmarkt sind horrend
gering und begrenzen sich auf Tätigkeitsbereiche, in denen die gestellten Aufgaben ohne Sprache ausgeführt werden
können. Dort, wo im Arbeitsbereich die Sprache erforderlich ist, werden sie nicht eingesetzt werden können, weil sie
von erheblichen Teilen der deutschen Bevölkerung kaum, nicht oder falsch verstanden werden.
Wiese weist nach: Kiezdeutsch sprechen nicht nur Migrantenkinder sondern auch ihre deutschstämmigen Mitschüler - und
sie wissen, was sie da tun. Das ist kein Argument für die Unterstützung des Kiezdeutschs. Die meisten
Menschen haben die Neigung, beim Sprechen mit Ausländern, die nicht gut deutsch können, ihnen mit deren Ausdrucksweise
entgegenzukommen, in der irrigen Auffassung, so von ihnen besser verstanden zu werden. Man kann diese Praktiken eher
als freundliches Entgegenkommen bewerten, nicht aber als die Aneignung dieses Verständigungsmittels durch die
deutschstämmigen Mitschüler. Die meisten steigen in dem Moment auf Standarddeutsch um, wenn sie nicht
mit der Clique, sondern mit Lehrern oder anderen Erwachsenen reden, was das oben Gesagte beweist.
Dabei ist mir jedoch der Begriff "Standarddeutsch" zur Unterscheidung des Deutschen vom Kiezdeutsch äußerst suspekt.
Bei Sprachtests mit den Potsdamer Forschern konnten sie zudem präzise angeben, was "richtiges Kiezdeutsch" und was
schlicht falsches Deutsch war. Eine solche Unterscheidung ist an den Haaren herbeigezogen. Die
verschiedenen Abweichungen vom Deutschen, die allesamt lediglich falsches Deutsch sind, lassen sich wohl kaum in
einleuchtender Weise unterscheiden. Die ganze Debatte ist der untaugliche Versuch, die Sprechweise einiger in Deutschland
lebender Bürger anderer Kulturkreise als Sprache zu etablieren. Solche Bestrebungen haben zur Folge, daß der Antrieb
der Betreffenden zum Erlernen der deutschen Sprache unterlaufen wird, das heißt, die Lernbereitschaft der angesprochenen
Personen verringert wird. Sie unterstützen den gegenwärtig zunehmenden Trend, die Beherrschung der Sprache nicht mehr
als Maß für Bildung anzusehen. Das ist insgesamt gesellschaftlich schädlich, weil damit auch das Hochdeutsche der allmählichen
Zerstörung preisgegeben wird.
Jugendsprache der multiethnischen Stadtviertel - ein echter Integrationserfolg (??)
ZUR PERSON
Informationsstruktur
Dr. Heike Wiese hat seit 2006 die Professur für Deutsche Sprache der Gegenwart an der Universität Potsdam inne. Sie
ist Sprecherin des Zentrums "Sprache, Variation und Migration" und arbeitet über "grammatische Reduktion" im
Sonderforschungsbereich Informationsstruktur.
Kiezdeutsch ist in Wieses Augen deshalb nicht das Merkmal einer integrationsunwilligen Einwanderergeneration und
auch keine Frage der sozialen Schicht. Kiezdeutsch ist die Jugendsprache der multiethnischen Stadtviertel, ein echter
"Integrationserfolg" - mit ähnlichen Formen in Hamburg und München, Frankfurt, Köln und wohl auch im Ruhrgebiet. In
Berlin-Kreuzberg, wo die Sprachwissenschaftlerin mit ihrer Familie lebt, lernen auch die Mittelschichtkinder schnell, wie
man Kiezdeutsch redet. Schon, um auf dem Schulhof dazuzugehören. Ganz im Gegenteil. Es ist
ein völliger Integrationsmißerfolg. Mit Hilfe eines auf Unbildung fußenden Sprachrudimentes grenzen sich diese Menschen
aus der Gesellschaft aus, bewußt oder unbewußt soll hier nicht erörtert werden. Frau Professor Wiese erzeugt aber
mit ihrem Herangehen nachhaltig Tendenzen, daß es bewußt geschieht. "Ich finde Kiezdeutsch schön, und ich
höre das auch gerne", sagt Heike Wiese. Während sich viele Lehrer am Kiezdeutsch ihrer Schüler abarbeiten und die
meisten Laien den Halbstarken-Slang aggressiv, prollig oder zumindest peinlich finden, ist die Forscherin begeistert von
der Kreativität der Mädchen und Jungen, die das Standarddeutsch für ihre Zwecke modellieren. Im Internet haben die
Potsdamer eine eigene Seite dazu eingerichtet - mit vielen Beispielen, Grammatik und Unterrichtsideen für Deutschlehrer.
Ich finde es unverschämt, die Gegner eines solchen Sprachverfalls als Laien zu definieren. Laienhaft
ist hierbei das völlig unprofessionelle Herangehen der Frau Professor an die Sprachwissenschaft.
Satzstellung wie im Althochdeutschen
Aber noch mal: Ist der Satz "Morgen isch gehe Kino" nicht auch bei einer noch so liberalen Auslegung grammatisch einfach
falsch? Die Zeitangabe (Morgen) und das Subjekt (ich) gehören im Deutschen - anders als im Englischen - nun mal nicht in
diese Reihenfolge. "In der heutigen Standardsprache nicht", kontert Wiese, aber auch das Deutsche kennt diese Art, das
Wichtigste nach vorne zu rücken: "Eiserne Türen ich werde zerschmettern" ("erino portun ih firchnussu") heißt es im
Althochdeutschen, ähnliche Beispiele gibt es auch in mittelhochdeutschen Texten. Es ist ganz sicher
kein Zeichen besonders reifen Sprachverständnisses, Formulierungsweisen aus dem Althochdeutschen und dem
Mittelhochdeutschen, die sich durch jahrhundertelange natürliche Sprachentwicklung zu Gunsten unserer heutigen
Sprache verändert haben, als beispielgebend anzusehen. Und es ist ein sprachwissenschaftlicher Abweg, darin eine
Rechfertigung für das Kiezdeutsch konstruieren zu wollen.
Heike Wiese will weiterforschen. Trotz der Beschimpfungen und Drohungen. Ihr Ziel: Etwas gegen die sprachlichen
Scheuklappen zu tun, die sie bei vielen Deutschen vermutet: "Ich mag die nicht, deshalb mag ich auch deren Sprache
nicht - so regieren viele auf Kiezdeutsch." Das ist völlig natürlich. Ich mag die nicht, die nicht Deutsch
lernen wollen. Aber ich mag die, die sich bemühen, in unserer Gesellschaft die bestmögliche Eingliederung zu erreichen, um
zusammen mit den Deutschen im gemeinsamen Leben bestehen zu können, auch mit Hilfe der deutschen Sprache.
Die kiezdeutsche Sprachverkümmerung ist dabei wenig hilfreich. Und noch etwas: Es sind ganz und gar keine "Scheuklappen",
wenn man sich dazu bekennt, mehr gegen den Verfall unserer Muttersprache tun zu wollen. Daran sollte eine
Sprachwissenschaftlerin eigentlich mitarbeiten und nicht ihre Kräfte für pseudowissenschaftliche Forschungsprojekte
vergeuden..
Julia Emmrich
Dr. Manfred Pohl