bearbeitet: 15.01.2013     
Ziffer 5 ergänzt: 09.12.2014     

Das Verhältnis von Theorie und Praxis
oder

wie falsche theoretische Grundauffassungen die Entwicklung behindern

Oft wird in vielen Lebensbereichen von der sogenannten grauen Theorie gesprochen. Hinter diesem meist mit negativen Inhalten empfundenen Begriff verbergen sich verschiedene Haltungen unterschiedlicher Personen zu praktischen Tätigkeiten im Beruf und im täglichen Leben.

In Wahrheit ist aber jegliche praktische Tätigkeit durch theoretische Überlegungen, Berechnungen, wissenschaftliche Entdeckungen und Forschungsergebnisse unterlegt. Jeder zweckmäßig gestalteten praktischen Tätigkeit geht immer die Theorie voraus. Viele technische Errungenschaften unserer Zeit sind überhaupt erst im Ergebnis jahrelanger Grundlagenforschungen auf den verschiedenen Gebieten möglich geworden. Denken wir zum Beispiel an die riesige Palette an galvanischen Elementen, Batterien, Knopfzellen und Kleinakkus, die heute nicht mehr aus dem Leben wegzudenken ist. Ohne die grundsätzlichen Entdeckungen, Erfindungen, Forschungen und Berechnungen von Galvani, Volta und vielen anderen Wissenschaftlern, die schon auf die 80er Jahre des 16. Jahrhunderts zurückgehen, wäre ihre Existenz gar nicht möglich. Oder denken wir an die heutige in allen Lebensbereichen verwendete hochentwickelte Computertechnologie, die es ohne die Grundlagenforschung auf den Gebieten Halbleiter, Kristallstrukturen, Atomaufbau und vielen anderen nicht geben könnte. Aber auch im gesellschaftswissenschaftlichen Bereich gibt es theoretische Grundlagen, auf denen die Funktion eines gesellschaftlichen Systems beruht. Gerade hier werden die gravierenden Fehler, die durch politische Ignoranz dieser Gesetzmäßigkeiten entstehen, zunehmend offenkundiger. Dazu ausführlicher ein wenig später.

Anhand einer Reihe von Beispielen soll nachfolgend gezeigt werden, welche Zusammenhänge zwischen Theorie und Praxis bestehen, wie Gesetzmäßigkeiten oft sträflich ignoriert und wider besseres Wissen umgangen werden, und wie dadurch das Erreichen von Fortschritten auf dem jeweiligen Gebiet nachhaltig gebremst, ja zum Teil gänzlich verhindert wird.

  1. Der BMI - ein Irrtum der Biologen

    Beginnen will ich mit einem Beispiel aus dem Bereich der Humanbiologie. Zu vielen wissenschaftlichen und auch praktischen Zwecken ist es erforderlich, die Körperfülle (Figur, Beleibtheit, Körpergewicht in Abhängigkeit von der Körperhöhe) eines Menschen oder auch eines anderen Forschungsobjektes zu bestimmen. Zur Lösung dieser Aufgabe hat sich ein Verfahren etabliert, das mathematisch-physikalisch auf einer völlig unsinnigen Voraussetzung basiert, der sogenannte Body Mass Index (BMI). Mit ihm wird die Körpermasse ins Verhältnis zum Quadrat der Körperhöhe gesetzt. Bereits ein im Physikunterricht aufmerksamer Schüler kann ohne Mühe erkennen, daß das Verfahren zur Bestimmung eines Maßes für die Körperfülle völlig ungeeignet ist. Mit keinen auch noch so ausgeklügelten Methoden kann damit ein objektiver Zusammenhang zwischen Körpermasse und Körpergröße erlangt werden, und schon gar nicht wird man zu vergleichenden Kriterien zwischen unterschiedlich großen Körpern gelangen können. Warum das so ist? Es ist elementare Physik: Masse existiert im Raum, eine Fläche (Quadrat der Körperhöhe!), allgemein eine Ebene, hat keine Masse, mit ihr kann auch eine Masse nicht beschrieben werden. Dieser grundsätzliche Naturzusammenhang wird beim BMI ignoriert, wodurch das Verfahren bereits im Grundsatz gegenstandslos ist und keinerlei wissenschaftlich brauchbare Ergebnisse erbringen kann. Dennoch wird seit Jahrzehnten daran festgehalten, obwohl es ein vollständig ausgearbeitetes wissenschaftlich tragfähiges Verfahren gibt. Die Grundlagen dafür wurden bereits 1921 durch den Schweizer Arzt und Physiologen Fritz Rohrer veröffentlicht. Es fußt auf dem Verhältnis der Masse eines Körpers zum Kubik seiner Höhe. Und dies ist letztendlich die einzig logische Herangehensweise. Einen anderen wissenschaftlich verwendbaren Ansatz gibt es nicht. Die Untauglichkeit des BMI und die Unzulänglichkeit der ermittelten Werte ist den meisten Anwendern wohlbekannt, deshalb werden die erhaltenen Werte stets mit umständlichen, völlig aus der Luft gegriffenen Korrekturen mit Hilfe von Tabellen oder Grafiken bis zu einer scheinbaren Brauchbarkeit verändert, im Ergebnis ist vom ermittelten Wert nichts mehr übrig. Vergleiche mit anderen Meßreihen sind unmöglich. Alle diese Korrekturen sind fern von jeglicher Wissenschaftlichkeit. Ausführlichere Beschreibungen und Begründungen findet man in "Der sogenannte Body Mass Index und der grundsätzliche Irrtum" auf meiner Internetpräsentation.


  2. Das Klima der Erde und die Politik

    Ein weiteres Beispiel: Der Klimawandel auf unserem Planeten Erde. In verschiedenen Wissenschaften ist gezeigt worden, daß sich die Erde gegenwärtig in einer Phase der allgemeinen Erwärmung befindet. Durch Forschungsarbeiten in der Geologie und auch in anderen Wissenschaften ist zweifelsfrei nachgewiesen worden, daß die Erde im Verlaufe ihrer Entwicklung schon immer starken Klimaschwankungen unterworfen war, auch als es den Menschen noch nicht gab. Eiszeiten und Wärmeperioden haben einander ständig in unregelmäßigen Abständen abgelöst. Dies ist ein kaum beeinflußbarer natürlicher Ablauf, der wissenschaftlich unstrittig ist. Klimaschwankungen sind das Ergebnis der ständig ablaufenden chaotischen Prozesse auf unserem Planeten, die von geologischen und kosmischen Kräften gesteuert werden. Die meisten Forschungsergebnisse auf diesem Gebiet werden nun aber so dargestellt, als sei ausschließlich der Mensch als Auslöser dieser allgemeinen Erderwärmung anzusehen. Nur wenige Stimmen weisen darauf hin, daß dies weit außerhalb der Tatsachen liegt. Zweifelsfrei hat der Mensch mit seiner inzwischen auf über 7 Milliarden angewachsenen Individuenzahl einen Einfluß auf das Klima, insbesondere durch seine naturschädigende Tätigkeit im Umgang mit den natürlichen Ressourcen, jedoch begrenzt sich dieser Einfluß, wie man inzwischen weiß, auf wenige Prozente. Der theoretische Grundfehler dieser Darstellungsweise liegt in der Überbetonung der Tätigkeit des Menschen. Die Versuche, mit Hilfe internationaler Vereinbarungen die Erderwärmung in einer vorgegebenen Zeit auf 2 Kelvin begrenzen zu wollen, ist wohl eher eine ungezügelte politische Phantasterei, zu deren Sinn und Zweck weitere Äußerungen an dieser Stelle sicher unangebracht sind. Der Mensch, der sich ein solches Ziel stellt, unterliegt mit Sicherheit einer ausgeprägten Selbstüberschätzung seiner Möglichkeiten in der Beeinflussung der geologischen und der kosmischen Kräfte.


  3. Ein Aberglaube zu Raumzeit und Materie - die Urknallhypothese

    Das folgende Beispiel berührt eine Wissenschaft, die sich der sogenannten "Entstehung" des Universums widmet, die Kosmologie. Seit über 60 Jahren ist diese Wissenschaft als Gesamtdisziplin dem unerklärbaren Aberglauben verfallen, es habe einen Anfang des Universums gegeben, es sei aus einem unendlich dichten und unendlich heißen Urzustand vor 13,7 Milliarden Jahren mit einem Urknall entstanden und expandiere seitdem beschleunigt. Dieser theoretische Grundsatzfehler legt derzeit noch immer die Weiterentwicklung der Kosmologie als Wissenschaft in Ketten und behindert auch die Astronomie durch die bewußte Negierung eindeutiger Beobachtungsergebnisse, welche diese Ansicht widerlegen. Fortschritte in der Forschung sind mit diesem Denkmodell nicht in Sicht und nicht zu erwarten. Auch wenn seit Aufkommen der Theorie Hunderte, ja Tausende astronomische Beobachtungen und viele detaillierte logische Überlegungen zeigen, daß es so nicht gewesen sein kann, wird an dieser auf der Schöpfungsidee fußenden Auffassung festgehalten. Die Verteidiger der Urknallhypothese sind auch nicht von der großen Zahl bedeutender Wissenschaftler und Persönlichkeiten des internationalen Lebens zu beeindrucken, über 500 haben eine öffentliche Petition gegen die Urknallhypothese unterzeichnet. Niemand ist bereit, die Unendlichkeit der Existenz des Universums in Raum und Zeit und Ewigkeit der chaotischen Materiebewegung in Betracht zu ziehen und für Forschungsansätze zu akzeptieren. Mit allerlei unwissenschaftlichen Spekulationen, Vermutungen und Erfindungen wird immer aufs Neue versucht, die Unzulänglichkeiten der Theorie zu verdecken und die unhaltbare Urknalltheorie zu verteidigen. Dazu werden fiktive Gebilde abseits jeder wissenschaftlichen Methode herangezogen, wie zum Beispiel die sogenannte "dunkle Energie", die "dunkle Materie" oder die grotesken Rechnereien zu einer vermeintlichen "Nukleosynthese". Um die Urknalltheorie zu erhalten, wird sogar so weit gegangen, die Existenz der Raumzeit und aller Naturgesetze zum Zeitpunkt des Urknalls mit der Behauptung zu leugnen, beides sei erst mit dem Urknall entstanden. Sogar der Materiebegriff wird zur Stützung der Theorie verfälscht, indem die Energie von der Materie getrennt und ihr gegenübergestellt wird. All das kann ausführlicher in meinem Beitrag "Die Urknallhypothese, eine Sackgasse der kosmologischen Forschung" sowie in weiteren Aufsätzen in meiner Rubrik "Naturwissenschaftliche Beiträge" nachgelesen werden.


  4. Die hinderliche Dezentralisierung der Bildung

    Ein interessantes Beispiel für die Auswirkungen einer theoretischen Fehlleistung auf einem gesellschaftswissenschaftlichen Gebiet ist die allgemeine Misere im bundesdeutschen Bildungssystem. So werden zum Beispiel in jedem Bundesland Lehrer ausgebildet, deren Abschlüsse in anderen Bundesländern dann keine Gültigkeit haben, so daß sie nicht bundesweit eingesetzt werden können. Generell werden die bereitzustellenden finanziellen Mittel für Bildung und Erziehung durch die Länderparlamente immer weiter gekürzt. Grundsätzlich wird dadurch Deutschlands wissenschaftliches und wirtschaftliches Leistungspotential immer stärker von der internationalen Spitze verdrängt. Neuere Bemühungen zum Beispiel um einheitliche Maßstäbe in den Anforderungen an das Abitur scheitern daran, daß sich die verantwortlichen Gremien der Länder nicht einigen können. Und wo liegt nun der theoretische Grundfehler? Er ist elementar: Es ist der erklärte politische Grundsatz, Bildung sei "Ländersache". In einer Zeit, in der ein Bundesbürger samt Familie für einen angemessenen Arbeitsplatz ohne Not das Bundesland wechselt, die Kinder der Familie dann in völlig andere Schulsysteme geworfen werden, in denen sie je nach Lage entweder nicht folgen können oder sich langweilen, ist diese Ansicht nicht mehr vertretbar. Bildungspolitik muß Bundespolitik sein, sonst bleibt das gesamte System über kurz oder lang auf der Strecke. Bei der Analyse des Hochschulsystems ergeben sich ganz ähnliche Schlußfolgerungen. So wird sichtbar, wie dieser theoretische Grundfehler die Entwicklung blockiert. Auch aus einer ganz praktischen Sicht ist das System nicht aufrechtzuerhalten. Ich stelle die Frage: Aus welchem Grunde muß man in den Bundesländern 16 Bildungsministerien mit all ihren Folgekosten unterhalten, von denen sich ein jedes berufen fühlt, das Fahrrad immer wieder neu zu erfinden, wenn doch eines auf Bundesebene genügen würde? Auch wenn es dreimal so groß wäre, ergäben sich enorme finanzielle Einsparungen. Betrachtet man nun noch weiterblickend Europa als Gesamtstruktur, könnte dort die Koordination bildungspolitischer Aufgaben sehr viel einfacher werden, würde es keine künstlich installierten Hierarchien geben. Bildung ist wahrlich zu bedeutend, als daß man sie im Zeitalter der Globalisierung gewaltsam dezentralisieren kann.


  5. Der Berliner Flughafen - ein politischer Fehlschlag

    Ein anderes Beispiel. Das Desaster BER. Bauplanung, Bauausführung und Organisation am neuen Berliner Flughafen befinden sich auf einem Niveau, das starke Zweifel an der Befähigung der ausführenden Organe erzeugt. Schließlich ist eine Verzögerung des Abschlusses um mehrere Jahre, die mit der Vergrößerung der Gesamtkosten auf ein Vielfaches einhergeht, bei einem solchen Großprojekt im Milliardenbereich kein Kavaliersdelikt. Dabei ist noch gar nicht von den Peripheriefirmen gesprochen, die dort investiert haben und nun wegen des Umsatzausfalls ihre entstandenen Kosten nicht mehr tragen können. Und wo liegen die Ursachen? Man sucht sie im Aufsichtsrat. Das wäre sicher richtig, würde man bei der Beurteilung der zwingenden Logik folgen und ihm bei einer Neubesetzung die erforderliche fachliche Kompetenz verleihen. Aber getan wird genau das Falsche. Man ersetzt eine Figur durch eine andere des gleichen Formats und hat damit defacto nichts geändert. Wo ist nun der theoretische Grundfehler? Wieder ist er ganz einfach zu erfassen: Im Aufsichtsrat eines solchen Großprojektes haben Politiker nichts zu schaffen, und schon gar nicht an der Spitze. Dort gehören Fachleute hin, die über die erforderlichen wirtschaftswissenschaftlichen, allgemeinwissenschaftlichen, technischen und insbesondere bautechnischen Kenntnisse verfügen. Diese Fachleute müssen ständig präsent sein und dürfen keine anderen Aufgaben haben, wie das beim Ministerpräsidenten eines Landes unausweichlich der Fall ist. Eine solche Aufgabe kann eben nicht nebenbei erfüllt werden. Zudem brauchen sie wissenschaftlich begründete Führungseigenschaften und ein hochangesetztes Durchsetzungsvermögen. Sicher ist unstrittig, daß einige solche Kräfte im Projekt BER vorhanden sind, aber sie werden von den politischen Konventionen ausgebremst, mit denen die Vorsitzenden im Aufsichtsrat aus wahltaktischen Gründen die Lorbeeren einzustreichen beabsichtigen. Politikern geht es naturgemäß nicht um das fachliche Anliegen, sondern um parteipolitische Interessen und um Machtstrukturen. Und ein solcher Grundsatz ist an dieser Stelle völlig unbrauchbar. Mit ihm wurde die Misere von Beginn an vorbereitet und organisiert.

    09.12.2014, knapp 2 Jahre nach meinem Beitrag:
    Erstaunlich, erstaunlich. Hält jetzt die Wissenschaft Einzug? Man hat es nun doch noch begriffen: Brandenburg wird keinen Minister mehr in den Aufsichtsrat entsenden. Späte Einsicht, aber besser als nie. Die Berliner Politik hat sich noch nicht geäußert, dort braucht man noch etwas Zeit. Wir warten. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Übrigens: Wäre man nicht gut beraten, im Angesicht der vielzähligen Korruptionsvorfälle einen Ermittler der Kriminalpolizei zu integrieren?


  6. Die Unmöglichkeit des quantitativen Vermessens der Qualität

    Ich will jetzt ein weiteres Beispiel aus dem Bildungsbereich betrachten. In der rein wissenschaftlichen Arbeit an den Universitäten und Hochschulen werden die Forschungsmittel auf der Grundlage falscher Parameter vergeben. Es werden untaugliche Wettbewerbe organisiert, die der wissenschaftlichen Arbeit eher abträglich sind. So wird die Qualität der Forschungsarbeit in der Regel anhand der Zahl der Veröffentlichungen durch die Forschungsmitarbeiter bewertet. Ausgewertet wird auch die Zahl der Zitierungen dieser Mitarbeiter in anderen Veröffentlichungen. Der Inhalt der Veröffentlichungen spielt dabei die weit geringere Rolle. Dies ist das Fazit des hier enthaltenen theoretischen Grundfehlers: Es wird der Versuch unternommen, Qualitätskriterien mit quantitativen Parametern meßbar zu machen. Das ist in kleineren Detailfragen sicher möglich, wenn es aber zum Ausschließlichkeitsprinzip gedeiht, ist das Unterfangen zum Scheitern verurteilt. Heute ist diese Entwicklung bereits so festgefahren, daß der Fehler schon gar nicht mehr bemerkt wird. Um das zu verdeutlichen, zitiere ich aus dem Buch des Schweizer Wirtschaftswissenschaftlers Prof. Dr. Mathias Binswanger, Fachhochschule Solothurn, Sinnlose Wettbewerbe - warum wir immer mehr Unsinn produzieren.
    "In der modernen Universität geht es also nur noch am Rande um Erkenntnis, auch wenn bei Sonntagsreden immer noch so getan wird, als ob dieses Ziel weiterhin im Vordergrund stünde. Moderne Universitäten sind einerseits Fundraising-Institutionen, (fundraising, engl. = Finanzmittelbeschaffung, Pohl) die es darauf anlegen, möglichst viele Forschungsgelder für sich abzuzweigen. Und andererseits sind sie Publikationsfabriken, die versuchen, ihren Publikationsoutput zu maximieren. Demzufolge ist der ideale Professor eine Mischung aus Fundraiser, Projektmanager und Vielpublizierer, bei dem nicht die Suche nach Erkenntnis, sondern der messbare Beitrag zur wissenschaftlichen Exzellenz im Vordergrund steht. Und damit die Professoren ihren Beitrag zur Exzellenz auch brav leisten, gibt es zusätzlich zu den traditionellen Dekanen an jeder Abteilung neuerdings auch Fakultätsmanager, und der Rektor bzw. Präsident ist heute eine Art CEO, (Chief Executive Officer, engl. = Leitender Direktor eines Unternehmens - Pohl) der von oben herab neue Strategien zur Erreichung von noch mehr Exzellenz diktiert. Forschung wird zum Mittel im Kampf um "Marktanteile" von Universitäten und Forschungsinstituten (Münch 2009 a, S. 148-164)." ... "Es sind vor allem zwei künstlich inszenierte Wettbewerbe, nämlich der Wettbewerb um möglichst viele Publikationen und der Wettbewerb um möglichst viele Forschungsgelder über sogenannte Drittmittelprojekte, die zur Produktion von Unsinn animieren. Beide Indikatoren (Publikationen, Drittmittel), um welche die künstlichen Wettbewerbe veranstaltet werden, spielen bei heutigen Forschungsrankings eine zentrale Rolle." ... "Grundlagenforschung manifestiert sich hingegen stets in Publikationen. Was ist also naheliegender, als den Output bzw. die Produktivität eines Wissenschaftlers oder eines Instituts anhand der Zahl der Publikationen zu messen? Denn ist es nicht so, dass viele Publikationen das Resultat von viel Forschung sind, die unser relevantes Wissen erhöhen?" Das widerlegt Binswanger mit dem Gleichnis: "Publikationen bewirken zwar eine Zunahme von beschriebenen Seiten, aber deren Zahl sagt nichts aus über die Bedeutung der Forschungsleistungen eines Wissenschaftlers oder einer Institution, genauso wenig wie die Zahl der gespielten Töne etwas über die Qualität eines Musikstücks aussagt."
    Dem ist nach meiner Auffassung nichts hinzuzufügen.


  7. Die pädagogische Kontraproduktivität der Medien

    Das folgende Beispiel bezieht sich auf gesamtgesellschaftliche Wirkungsmechanismen bei der Erziehung heranwachsender Generationen. Das allgemeine Erziehungsziel besteht letztendlich in der Heranbildung von Menschen mit gesellschaftsnützlichen Verhaltensweisen und Idealen. Grob zusammengefaßt wäre das die Achtung vor dem Leben, der Natur und der Arbeit, die Befähigung zum qualifizierten Mitwirken bei der Gestaltung der menschlichen Gesellschaft, das Einbringen der eigenen Person in den Fortschritt und die Weiterentwicklung. Der theoretische Fehler bei der Bewerkstelligung dieser Aufgabe besteht im Fehlen einer gesamtgesellschaftlichen Grundkonzeption, mit der diese Ziele frei von wesentlichen und charakteristischen Störungen erreicht werden könnten. Und in der Nichtbeachtung dieses theoretischen Aspekts liegt in der heutigen Gesellschaft der Schwachpunkt. Mediale Störeinflüsse für den Erziehungs- und Bildungsprozeß haben in der modernen Gesellschaft Größenordnungen angenommen, die mit den nützlichen Einflüssen vergleichbar sind. Wenn zum Beispiel ein Heranwachsender bis zur Vollendung seines 12. Lebensjahres über die ständig zur Verfügung stehenden Medien etwa 3000 Morde angesehen hat, wie soll er dann Achtung vor dem Leben entwickeln können? Wie soll er bei der ständigen Beeinflussung durch Filmdarbietungen, in denen viele Probleme fast ausschließlich mit vorgehaltener Waffe gelöst werden, erkennen lernen, daß man mit einer Waffe nicht auf Menschen zielt, geschweige denn abdrückt? In den psychologischen Wissenschaften sind diese Mechanismen längst erkannt, in der praktischen Anwendung gibt es jedoch nicht die allergeringsten Ansätze für ein brauchbares Ergebnis bei der Zurückdrängung solcher Einflüsse. Bezeichnend scheint mir hierbei das Verhalten der Gesellschaft nach den in den letzten Jahren immer häufiger werdenden Amokläufen. Gesprochen wird in der Auswertung intensiv über verschärfte Waffengesetze, bessere Überwachungsmaßnahmen, höhere Polizeipräsenz und stärkere Erziehungspräventionen. Kein Wort hingegen fällt über die Unterbindung von Gewaltdarstellungen, Kriegsverherrlichungen und Menschenverachtung in den Medien und in den massenweise vorhandenen brutalen Computerspielen, die den Heranwachsenden uneingeschränkt zugänglich sind, und mit denen sie das Töten mit leidenschaftlicher Hingabe trainieren können. Solche grundsätzlichen theoretischen Aspekte werden bei der Behandlung dieser Themen völlig ausgeblendet. Wenn einer mit einem Hammer zahlreiche Fensterscheiben einschlägt, wird es wenig nützen, ihm den Hammer wegzunehmen. Es könnte schon eher erfolgreich sein, würde man ihn zum zweckentsprechenden Umgang mit dem Werkzeug befähigen.


  8. Das Hartz-IV-Debakel

    Einen bereits allgemein bekannten theoretischen Fehler findet man in einem Beispiel aus der bundesdeutschen Sozialpolitik. Wird ein Arbeitnehmer in der Bundesrepublik Deutschland arbeitslos und kann bis zum Ablauf der Zahlungsfristen aus seiner Arbeitslosenversicherung nicht wieder in den Arbeitsprozeß eingegliedert werden, erhält der Sozialleistungen aus dem Fond der Hartz-IV-Leistungen, die verbunden sind mit weiteren Vergünstigungen (Mietbeihilfe, Heizkostenerstattung, diverse Sonderzuwendungen). Das ist insoweit in Ordnung, als es dem Grundsatz entspricht, daß niemand aus der Gesellschaft ausgegrenzt werden darf. Jedoch hat dieses Versorgungsprinzip einen einschneidenden theoretischen Fehler: Die Hartz-IV-Leistungen sind zusammen mit den weiteren Vergünstigungen häufig höher als der Arbeitslohn für eine weniger qualifizierte Arbeit. Das führt zwangsläufig dazu, daß für einen Arbeitslosen ohne besondere Qualifizierung der Anreiz entfällt, sich um eine Arbeit zu bemühen, wenn er nicht selbst in einer Arbeit ein Mittel zur gesellschaftlichen Anerkennung sieht. Die Aufnahme einer Tätigkeit führt im bestehenden System gegenüber dem Hartz-IV-Status oft zu einem Verlust an finanziellen Mitteln. Obwohl diese Tatsache allen Politikern bekannt ist, geschieht nichts, um diese Diskrepanz aufzuheben. In der Folge entsteht ein Heer von Arbeitslosen, das arbeitsunwillig ist und die fehlenden eigenen Anstrengungen zur Wiedereingliederung in den Arbeitsprozeß als normal ansieht. So wird es zu einer moralisch und ökonomisch nicht vertretbaren Dauerbelastung der Gesellschaft. Es ist hier nicht der Ort, die Methoden der Abänderung dieses offenen Mißstandes vorzuschlagen oder zu diskutieren, es steht aber sicher außerhalb jedes Zweifels, daß der Zustand so nicht belassen werden kann. Die Aufhebung kann nur so aussehen, daß der genannte theoretische Grundfehler beseitigt wird. Jede Arbeit muß mehr einbringen als der Status der Arbeitslosigkeit. Unsere gegenwärtige Führung jedoch scheitert im Handeln an dieser elementaren Logik.


  9. Was Erziehung wirklich ist

    Hier noch ein Beispiel aus den Erziehungswissenschaften. Die in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts aufgekommene sogenannte antiautoritäre Erziehung ist ja, wie allgemein bekannt, gescheitert. Die Gründe dafür lassen sich in wenige Sätze fassen. Heranwachsende, die auf der Basis einer Pseudofreiheit erzogen werden, unabhängig von äußeren Gegebenheiten alle Entscheidungen ausschließlich nach eigenem Ermessen zu fällen, werden nicht auf das Leben in der Gesellschaft vorbereitet, sie werden im täglichen Leben scheitern müssen. Jeder Mensch hat als Mitglied einer Gemeinschaft Vorgesetzte oder mindestens Übergeordnete, die für die Mitglieder der Gemeinschaft Rechte und Pflichten festlegen. Dies ist ein gesetzmäßiger Vorgang, ohne den eine komplexe Gesellschaftsstruktur nicht funktionieren kann. Die Ablehnung jeglicher Autorität entspricht folglich nicht den objektiv wirkenden Gesetzen einer Gesellschaftsstruktur. Aber auch die Erziehung ausschließlich mit Drill und Unterordnung unter vorangestellten Willen wäre kein verwendbares Erziehungsprinzip, weil es nicht die schöpferischen Kräfte des Individuums freisetzt, die die Entwicklung voranbringen. Der theoretische Grundsatz muß deshalb lauten: Erziehung ist eine Einheit von Überzeugung und Zwang. Beobachtet man die heutige Praxis, so bemerkt man, daß das Phänomen der antiautoritären Erziehung auch gegenwärtig nicht völlig überwunden ist. Das beginnt bereits im Elternhaus. Viele Eltern scheuen die klare Festlegung und Durchsetzung notwendiger Ordnungsprinzipien gegenüber ihren Kindern, teils aus Bequemlichkeit, teils aus Mangel an Befähigung. Die Folge sind aufsässige Heranwachsende, die sich gegen die elterliche Autorität stemmen. In den heutigen Schulen haben die Lehrer überhaupt keine Druckmittel mehr, um eine festgelegte Ordnung durchzusetzen. Hier wird ausschließlich auf Einsicht der Schüler nach Diskussion gesetzt. Die Folge ist verfallende Disziplin, die an verschiedenen Schulen bereits zu so chaotischen Zuständen führt, daß die Erziehungs- und Bildungsaufgaben nicht mehr erfüllt werden können. So bleibt nicht aus, daß unter solchen Bedingungen Heranwachsende auch zu Straftätern werden können, die erst später zur Kenntnis nehmen müssen, daß sie Gesetze nicht umgehen können, sondern einhalten müssen. Stehen Sie dann vor den Organen der Staatsmacht, offenbaren sie sich als unkooperativ, frech und maßen sich an, Vertreter der Staatsmacht, zum Beispiel der Polizei, nach Belieben zu beleidigen und zu verunglimpfen. Meines Erachtens haben auch die Staatsorgane viel zu wenig Druckmittel, solche Straftäter zur Einsicht zu bringen.


  10. Sprachgestalterisches Wirken - oder: Wem gehört die Sprache?

    Besonders drastische Beispiele für die Ignoranz gegenüber wissenschaftlichen Erkenntnissen und Grundlagen findet man in der Sprachwissenschaft. Naturgemäß gibt es in der Gesellschaft Gruppen, die erweiterte Möglichkeiten haben, unsere Muttersprache zu beeinflussen. Dazu zählen Politiker, Mitarbeiter im Bildungssystem, Mitarbeiter der Medien, Werbefachleute und viele andere. Der qualifizierte Umgang mit der Sprache ist dabei stark abhängig von der vorangegangenen Spracherziehung und -bildung solcher Personen. Jedoch findet man gegenwärtig ein heilloses Revoluzzertum vor. Zu viele maßen sich an, sprachgestalterisch wirksam zu werden, ohne die dafür erforderlichen sprachwissenschaftlichen Kenntnisse und das notwendige Sprachgefühl zu haben. Da wird eine völlig unqualifizierte Rechtschreibreform fabriziert und dem Volk per Erlaß aufgezwungen, für die es keinerlei Notwendigkeit gegeben hat. Da wird eine unnütze, populistisch angetriebene Gendersprache ins Leben gerufen, in der durch permanente Doppelnennung männlicher und weiblicher Formen unerträgliche Sprachblasen entstehen, die überhaupt nicht "frauengerechter" sind, sondern lediglich die Sprache verunstalten. Das Ganze soll dann mit dem hochtrabenden Begriff politische Korrektheit gerechtfertigt werden; schlimmer noch, man nennt es gar political correctness. In der Werbung und leider auch in wissenschaftlichen Ausarbeitungen fühlt man sich berufen, all und jedes unter Vermeidung des Deutschen mit einer unaufhaltsamen Schwemme englischer Vokabeln anzubieten. Teile des Volkes werden so animiert, tatkräftig am Abschlachten der deutschen Sprache mitzuwirken. Da wird versucht, im Namen der Wissenschaft das sogenannte Kietzdeutsch, die Sprechweise ausländischer Mitbürger, die nicht oder noch nicht richtig Deutsch können, als neuen deutschen Dialekt zu deklarieren. Das alles und noch vieles mehr hat seinen unrühmlichen Ausgangspunkt in unseren allgemeinbildenden Schulen, in denen in den letzten Jahrzehnten zunehmend die Spracherziehung zum Ressort des Deutschlehrers erklärt wird. Hierin liegt der theoretische Grundfehler, der die heutige Sprach"entwicklung" nachhaltig prägt. Die Lehrkräfte fühlen sich mit Ausnahme der Deutschlehrer nicht mehr für die Spracherziehung zuständig. Beobachtungen zeigen, daß Teile davon selbst kein gepflegtes Deutsch mehr sprechen, nicht ohne Folgen für die ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen. Kinder und Jugendliche, die heute noch ein gutes Deutsch erlernen und dies auch wollen, müssen das im Elternhaus mitnehmen können, außerhalb geschieht zur Sprachentwicklung nichts Nennenswertes mehr. Selbst bei einigen Deutschlehrern erschöpft sich die Spracherziehung im Unterrichten der Orthographie und Grammatik. Die Folge davon ist der zunehmende Verfall des Kulturgutes Muttersprache, weil die Zahl derer, die den Verfall bemerken kann und deshalb gegensteuert, rückläufig ist. Zwei Dinge sind dringend geboten: Die Wiederherstellung der Verantwortung des gesamten Lehrkörpers an den Schulen für die Spracherziehung und die verstärkte Spracherziehung in der Lehrerbildung an den pädagogischen Hochschulen.


  11. Mitteleuropäische Sommerzeit - außer Spesen nichts gewesen

    Als letztes Beispiel soll die halbjährliche Uhrzeitumstellung in Europa genannt werden. Sie wurde nach mehreren Abwandlungen und zeitweiligen Aussetzungen (1919 bis 1939, 1950 bi 1980) mit dem Ziel der Energieeinsparung 1981 wiedereingeführt. Daß dieser gewünschte Effekt nicht eingetreten ist, hat seit langem die Praxis gezeigt. Bei sorgfältiger analytischer Behandlung hätte man das jedoch auch ohne Experimente berechnen können. Hier zeigt sich, daß das Unterlassen notwendiger theoretischer Aufarbeitung eines solchen Problems zu unnützen und kostenaufwendigen praktischen Maßnahmen führt, die vermeidbar gewesen wären. Man bedenke nur den organisatorischen Aufwand bei der Umstellung von Fahr- und Flugplänen aller Art landesweit und europaübergreifend, der zweimal jährlich entsteht. Allein die Deutsche Bahn stellt 120.000 Uhren um. Man bedenke auch den Aufwand bei der Umstellung der Normaluhren der Zeitdienste in ganz Europa, der nicht unerheblich ist, denn das sind komplexe elektronische Einrichtungen, an denen man nicht einfach die Zeiger verdrehen kann. Unverständlich bleibt aber nun, daß trotz praktischen und nun auch theoretischen Nachweises die Fehlentscheidung nicht korrigiert wird und weiterhin die kostenintensive Zeitumstellung in jedem Halbjahr durchgeführt wird. Nun kann man spekulieren. Weil sie aus wissenschaftlicher Sicht keinen Gewinn bringt, könnte man die Zeitumstellung einfach unterlassen. So zum Beispiel verfährt Rußland seit 2011. Daß es dennoch nicht geschieht, ist sicher dem Versagen der Politik geschuldet, die nicht in der Lage ist, dazu eine europäische Einigung herbeizuführen.


Die Liste der Beispiele, mit denen das Auseinanderlaufen von Theorie und Praxis zu gravierenden Entwicklungsschäden auf den jeweiligen Gebieten führt, könnte sicher uneingeschränkt erweitert werden, würde man eine größere Gruppe Wissenschaftler aus verschiedensten Gebieten und Zweigen des gesellschaftlichen Lebens in die Ausarbeitung solcher Listen einbeziehen. Die hier behandelten Darstellungen sind nur aus meiner eigenen Sicht herausgefunden und sollen deshalb auch keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben.